Gewitter über Emilienlund: Mittsommerglück (German Edition)
zwanzigsten Mal innerhalb der letzten halben Stunde. Verdammt, eigentlich hatte er sie längst zurückerwartet. Welche halbwegs klar denkende Frau lief schon freiwillig durch die Wälder, wenn sie lediglich mit einem alten Herrenbademantel bekleidet war? Zugegeben, die Gefahr, von irgendjemandem – abgesehen von einem Elch oder einem Reh – gesehen zu werden, war relativ gering. Und trotzdem …
Zum Teufel mit dieser Frau, er hatte von Anfang an gewusst, dass sie nur Ärger machen würde. Er sollte sie einfach sich selbst überlassen, schließlich war es nicht seine Schuld, dass sie einfach davongelaufen war. Nun, jedenfalls war es nicht
allein
seine Schuld.
Seufzend schüttelte er den Kopf. Natürlich würde er nichts dergleichen tun, dazu war er gar nicht imstande. Er hatte noch niemals jemanden im Stich gelassen, der seine Hilfe benötigte. Und wenn sie nicht innerhalb der nächsten Viertelstunde auftauchte, würde er wohl oder übel nach ihr suchen müssen.
Er nahm einen der glatt polierten Kieselsteine auf, die am Seeufer lagen, und warf ihn geschickt so ins Wasser, dass er über die spiegelblanke Oberfläche glitt, ehe er schließlich versank.
Gedankenverloren blickte er über den See.
Jemand hatte ihm einmal gesagt, dass er der loyalste und integerste Mensch auf der ganzen Welt sei, und Grey hatte sich in seiner grenzenlosen Naivität über dieses Kompliment gefreut. Kurze Zeit später jedoch hatte derselbe Jemand ihm auf brutale Weise klargemacht, dass diese Eigenschaften zugleich auch seine größten Schwächen waren.
Doch Grey hatte aus seinem Fehler gelernt. Er würde nicht zulassen, dass die Vergangenheit sich wiederholte. Niemals. Denn was damals geschehen war, hatte nicht nur ihn für immer verändert, sondern auch noch ein weiteres, vollkommen unschuldiges Leben zerstört. Leben, für dessen Vernichtung Grey sich noch immer verantwortlich fühlte, obwohl er wusste, dass er es nicht hätte verhindern können.
Das hätte nur Joanna gekonnt.
Joanna.
Schaudernd zwang er seine Gedanken zurück in die Gegenwart. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um schmerzhaften Erinnerungen nachzuhängen. Die Vergangenheit ließ sich nicht ändern, so sehr man es sich manchmal auch wünschte, dessen war Grey sich bewusst. Und irgendwo da draußen war Annie und ängstigte sich wahrscheinlich halb zu Tode.
Sie war nicht für das verantwortlich, was in seiner Vergangenheit geschehen war. Sie war nicht Joanna. Und doch löste sie Gefühle in ihm aus, die er nicht zuordnen konnte und die ihm eine Heidenangst einjagten.
Annie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Es kam ihr vor, als würde sie schon seit einer halben Ewigkeit orientierungslos durch die Gegend laufen. Vielleicht waren es aber auch erst wenige Stunden. Sie wusste es nicht.
Seltsam. Der Wald war ihr längst nicht so düster und bedrohlich erschienen, als ihr noch nicht klar gewesen war, dass sie sich verlaufen hatte. Nun aber zuckte sie bei jedem Geräusch zusammen und erschreckte sich sogar vor ihrem eigenen Schatten.
Es begann langsam zu dämmern, und mit der Sonne verschwand auch die Wärme. Es wurde kalt. Fröstelnd schlang Annie sich den Bademantel enger um den Leib und versuchte, nicht die Nerven zu verlieren. Panik war jetzt wirklich das Allerletzte, was sie gebrauchen konnte.
“Komm schon, so weit kann es ja nicht mehr sein”, murmelte sie, wie um sich selbst Mut zuzusprechen. Es half nicht viel. Sie befand sich in einem fremden Land, in einer ihr vollkommen unbekannten Umgebung, über die sie nur eines wusste: Außer der Hütte, in der Grey und sie Unterschlupf gefunden hatten, gab es im näheren Umkreis keinen weiteren Ort.
Es war ein dummer Fehler gewesen, einfach so wegzulaufen, das war ihr jetzt klar. Ebenso wie die Entscheidung, durch den Wald zu gehen, anstatt sich am Ufer des Sees zu halten. Wäre sie in der Nähe des Wassers geblieben, hätte sie früher oder später von allein auf die Hütte stoßen müssen. So aber hatte sie vollkommen die Orientierung verloren. Alles sah gleich aus. Überall nur Bäume, Sträucher und Büsche. Nichts, woran sie hätte erkennen können, in welche Richtung sie sich wenden musste.
Ruhig bleiben, beschwor sie sich. Jetzt nur nicht durchdrehen. Doch das war leichter gesagt, als getan. Ihr wurde ganz übel bei dem Gedanken, die Nacht hier draußen im Wald verbringen zu müssen. Ob Grey nach ihr suchte? Wahrscheinlich. Doch wie hoch waren die Chancen, dass er sie tatsächlich fand?
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