Gewitterstille - Kriminalroman
Bodenvase mit dem Löwenkopf im Flur.« Die außergewöhnliche kobaltblaue Schlangenhenkelvase hatte Anna immer beeindruckt. Das Stück war mit seinen naturalistisch modellierten und goldradierten Löwenköpfen, aus deren Mäulern zwei Schlangenköpfe emporragten, einzigartig.
Petra Kessler lachte verächtlich auf.
»Die Vase, in deren vorderem Ovalmedaillon die heilige Gertrud abgebildet ist?«
»Ja, die meine ich.«
»Das Stück werden Sie sich wohl kaum leisten können.« Anna folgte Petras Blick, der sie abschätzig taxierte und sich dann direkt auf einen Marmeladenfleck heftete, der sich im Schulterbereich ihres verwaschenen T-Shirts befand, wie Anna leider erst jetzt feststellte. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und bekämpfte den Impuls, sich für ihren Aufzug zu rechtfertigen. Wenn man ein Kleinkind zu Hause hatte, konnte man eben nicht immer wie aus dem Ei gepellt aussehen.
Petra Kessler hob nur die Brauen und schlenderte dann zum Kamin hinüber. Auf dem Sims stand eine kleine Porzellanschale, die sie anhob, um offenbar auf der Unterseite nach dem Herstellerzeichen zu forschen.
»Ich fürchte, Sie haben überhaupt keine Ahnung, was die Vase im Flur wert ist«, sagte sie zu Anna.
»Nein«, antwortete diese ehrlich und bemühte sich, ihren aufkeimenden Ärger über die geradezu gehässige Arroganz ihres Gegenübers hinunterzuschlucken.
»Nun, es handelt sich um ein wertvolles und zugleich sehr ungewöhnliches Unikat aus Meissen.« Petra Kessler hielt das Schälchen noch immer in der Hand und tippte jetzt Anna zugewandt mit ihren rot lackierten langen Fingernägeln auf dessen Unterseite.
»Meissener Porzellan«, sagte sie, bevor sie das Schälchen wieder auf dem Sims abstellte. Dann stolzierte sie durch den Raum zur Anrichte hinüber, wo sie betont langsam mit den Fingerkuppen an deren Kante entlangstrich. »Sie haben doch den Namen Meissen schon einmal gehört, oder? Die Vase hat schätzungsweise einen Wert von 20 000 Euro.«
Anna schnappte nach Luft. »Sie haben recht, das kann ich mir tatsächlich nicht leisten.«
Petra Kessler lächelte überlegen. Anna fragte sich, wie emotional verarmt diese Frau doch sein musste, dass sie es nötig hatte, sich derart in Szene zu setzen.
»Die Vase ist ein wertvolles Erbstück aus dem Familien besitz meines Vaters. Sie ist im Übrigen eines der wenigen Stücke, die ich behalten werde. Falls Sie allerdings Interesse an dem Porzellangedöns auf der Anrichte haben, wird sich sicherlich einiges finden lassen, das für Sie durchaus erschwinglich ist.« Petra Kessler hob demonstrativ einen kleinen Hund aus Swarovski-Kristall in die Höhe und stellte ihn dann wieder ab.
»Vielen Dank«, sagte Anna und bemühte sich, Petra Kessler ihr selbstbewusstestes Lächeln zu schenken.
In diesem Moment wunderte es Anna kaum mehr, dass die nette Frau Möbius so gut wie nie ein Wort über ihre Tochter verloren hatte. »Ich lasse Sie dann wohl lieber mal allein. Wenn Sie etwas brauchen, können Sie gerne zu uns hinüberkommen.« Anna überreichte Frau Kessler den Schlüssel, den sie von Frau Möbius für Notfälle erhalten hatte, und verließ das Haus.
»So eine blöde Kuh!« Annas Empörung hatte sich noch nicht wieder gelegt, als sie Sophie später in der Küche von ihrem Erlebnis berichtete.
»Die Vase werden Sie sich wohl kaum leisten können«, imitierte sie affektiert die Stimme von Petra Kessler und stolzierte dabei barfuß auf Zehenspitzen in ihren kurzen Shorts durch den Raum wie ein Model beim Fotoshooting. Dabei schwenkte sie ihre Sonnenbrille erst in der Hand und biss dann auf einen der Bügel, während sie ihre Hüfte kokett nach rechts und links schwang. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie die mich angesehen hat! Als wäre ich die allerletzte Schlampe. Und ich habe mir Gedanken darüber gemacht, wie ich den heutigen Tag überstehen soll, und mich auf eine trauernde Tochter eingestellt. Die braucht garantiert keine Hilfe. Die pinkelt Eiswürfel, sag ich dir.«
»Wir haben es eben mit einer Frau von Welt zu tun«, sagte Sophie lachend. »Lass uns der Wahrheit ins Auge blicken. Wir sind Mädels aus der Provinz.«
Anna hätte ihrem Ärger gern weiter Luft gemacht, wurde aber durch das Klingeln an der Haustür unterbrochen. Sophie öffnete, und kurz darauf stob Frau Kessler wie eine Furie in Annas Küche.
Anna wich unweigerlich einen Schritt zurück, als Petra Kessler sich unmittelbar vor ihr aufbaute. Obwohl die Frau klein und dünn war, besaß sie eine
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