Gewitterstille - Kriminalroman
milien ihn so einzigartig machten.
Den Inhalt der Predigt hatte Anna kaum wahrgenommen, viel zu sehr war sie mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt gewesen, die vor allem um Sophie kreisten. Sie hatte die meiste Zeit mit nahezu regungsloser Miene neben ihr auf der kunstvoll geschnitzten Holzbank gesessen und nur ab und an zu der Organistin hinaufgeblickt, die in einem der zwei Balkone gesessen und routiniert einige getragene Kirchenlieder gespielt hatte. Anna ließ ihren Blick über die weißen, bleiverglasten Fenster des Backsteingebäudes schweifen. Sie war noch immer erstaunt, dass Sophie sie hatte begleiten wollen, obwohl sie Frau Möbius kaum gekannt hatte. Anna fragte sich, ob die Teilnahme an der Beerdigung eine Art Vergangenheitsbewältigung für sie darstellte. Den Gedanken, dass Sophie sie vielleicht in der Hoffnung begleitet hatte, Jens Asmus zu begegnen, verwarf sie sofort wieder. Sophie nahm den Tod viel zu ernst, als dass Anna ihr zugetraut hätte, allein wegen eines jungen Mannes auf eine Beerdigung zu gehen. Vielleicht suchte sie einen Weg, mit der unverarbeiteten Trauer um den eigenen Vater fertigzuwerden. In letzter Zeit hatte sich Anna immer wieder die Frage gestellt, ob es richtig gewesen war, Sophie in ihrem Haus aufzunehmen. Letztlich hatte sie das Mädchen, dessen Schicksal sie anrührte, kaum gekannt. Sophies Mutter hatte Mann und Kind verlassen, als Sophie noch ein kleines Mädchen war. Soweit Anna wusste, hatte sich Sophies Mutter damals verliebt und war mit dem Mann nach Südfrankreich durchgebrannt. Anna konnte nur erahnen, was der Verlust der eigenen Mutter für ein vierjähriges Kind – so alt war Sophie damals gewesen – bedeutet haben musste. Hinzu kam, dass Sophies Vater, so wie Anna ihn kennengelernt hatte, nicht im Geringsten geeignet gewesen war, das Loch, das man in Sophies Herz gerissen hatte, auch nur ansatzweise zu füllen. Auf dem mehrere Hundert Meter langen Weg, den der kleine Trauerzug den Sargträgern über das Friedhofsgelände gefolgt war, hatte kaum jemand ein Wort gesprochen. Nun saß Sophie dort in ihrem Rollstuhl, schaute auf den Sarg und sah schwach und hilflos aus. Ein junges Mädchen, dessen Vater vor noch nicht allzu langer Zeit gestorben war und das, obwohl die Mutter noch lebte, dennoch im Grunde eine Vollwaise war.
Anna versuchte, ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken.
Es waren nur wenige Trauergäste erschienen, denn Frau Möbius hatte nahezu alle ihre Freundinnen und vor allem ihre Geschwister überlebt. Einige Nachbarn und Leute aus dem Dorf wie der Metzger, bei dem die Frau über Jahrzehnte eingekauft hatte, waren gekommen, um ihr die letzte Ehre zu erweisen. Auch Dr. Jung zählte zu den Trauergästen, was Anna rührend fand. Anders als Jens Asmus, bei dem Anna es eigentlich erwartet hätte, schien Dr. Jung es als Selbstverständlichkeit anzusehen, seine langjährige Patientin auf ihrem letzten Weg zu begleiten. Abgesehen von dem gleichförmigen Niederprasseln des Regens war es totenstill. Es regte sich kaum ein Lüftchen, und es schien Anna, als würde der Himmel seiner Trauer damit auf eigene Art Ausdruck verleihen. Anna kroch es kalt den Rücken hinauf, als der glänzende Holzsarg mit dem schlichten Blumengesteck hinabgelassen und knarrend dem Erdreich übergeben wurde. Sie war froh, dass Emily inzwischen friedlich unter der Regenplane in ihrem Buggy eingeschlafen war. Das Geschehen in der Kapelle hatte sie mit unbefangener Neugier verfolgt, und ihr gelegentliches fröhliches Quietschen hatte die angespannte Atmosphäre für einige Augenblicke zu durchbrechen vermocht. Anna griff erneut nach ihrem Taschentuch und weinte – weniger um Frau Möbius persönlich als um die, die sie selbst in ihrem Leben zu betrauern hatte.
Auch Petra Kessler, die Tochter von Frau Möbius, betupfte mit einem Taschentuch ihre Augen, die sie trotz des Regens unter einer dunklen Sonnenbrille verborgen hatte, bevor sie mit dem ihr überreichten Spaten die erste Schippe Sand auf den Sarg schaufelte. Anna hatte sie während der Predigt beobachtet. Ähnlich wie Sophie hatte Petra Kessler kaum eine Gefühlsregung erkennen lassen. Bereits ihr äußeres Erscheinungsbild wich deutlich vom Rest der Trauergemeinde ab. Sie passte nicht in das kleine, beschau liche Lübeck, sondern wirkte in ihrem zweifelsohne sehr teuren schwarzen Kostüm und der dunklen Sonnenbrille eher wie eine gealterte Filmdiva. Auf den ersten Blick hatte sie rein gar nichts mit ihrer fröhlichen
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