Gewitterstille - Kriminalroman
es kaum möglich war, einfach daran vorbeizugehen, ohne einen Blick darauf zu werfen. Die Auslage war nicht nur köstlich, die Waren standen darüber hinaus auch in einer geradezu betörenden Harmonie zu den kleinen Schiefertafeln, auf die André mit seiner rund geschwungenen Handschrift Preise und Namen der einzelnen Artikel verzeichnet hatte. Als sie sich gerade wieder abwenden wollte, war sie durch das Fenster Andrés Blick begegnet. Er hatte einfach nur dagestanden und sie angesehen, und in seinen Augen hatte sie nicht nur Faszination, sondern zu ihrer Verwunderung auch Mitgefühl lesen können. Es war, als hätte dieser winzige Moment für ihn ausgereicht, um die Verzweiflung zu erkennen, die sie in jenen Tagen empfand, in denen sie sich so verloren gefühlt hatte. André hatte sie hineingewinkt, sie war seiner Aufforderung gefolgt und hatte die Köstlichkeiten probiert, die er ihr über den Tresen gereicht hatte. Er hatte sie seine Weine schmecken lassen, die sie angesichts der Wärme sofort wohlig beschwipst werden ließen. Nicht nur mit der Zunge, sondern mit allen Sinnen hatte sie in jenem Moment gespürt, dass sie doch noch lebendig war. Ihr Mann war irritiert gewesen, sie in dem Geschäft zu finden, nachdem er zunächst eine Weile vergebens auf der Straße nach ihr Ausschau gehalten hatte. Obwohl er kurze Hosen und ein Poloshirt trug, hatte er wie immer zu korrekt und steif in der entspannten Atmosphäre des Ladens gewirkt. Ihm war anzusehen gewesen, dass ihn Beates Ver halten verwunderte, die mit geröteten Wangen vor dem Ver kaufstresen gestanden hatte. Er hatte durchaus bemerkt, dass André mit Beate flirtete, hatte es jedoch geschehen lassen, weil er es für das geschäftstüchtige Gehabe eines gewieften kleinen Franzosen hielt. Aus dem gleichen Grund hatte er eingewilligt, als André sie spontan einlud, einige Tage auf seinem nahe gelegenen Gut zu verbringen. Er hatte nicht die Antennen besessen, um zu erkennen, dass sich zwischen André und seiner Frau etwas anzubahnen drohte.
Es war ihr letzter gemeinsamer Urlaub gewesen, in dem ihr endgültig klar geworden war, dass sie sich von ihm befreien musste, um nicht unterzugehen, und André hatte ihr den notwendigen Anker zugeworfen. Sie hatten vier Nächte im Gästezimmer des kleinen französischen Landhauses verbracht. Klaus hatte lange aufgehört zu fragen, ob sie ihn begleiten wollte, wenn er morgens das Haus verließ, um einen seiner Ausflüge in die Umgebung zu unternehmen. Er verschwand und ging davon aus, dass sie den Tag wie immer auf ihrem Zimmer sitzen und die Wände anstarren würde. Sie tat es nicht. Es war, als hätte André sie aus einem langen Schlaf geweckt und daran erinnert, dass das Leben lebenswert war. Er hatte sie hinaus gelockt und war mit ihr an der Küste entlang über die Moyenne Corniche mit dem Auto von Nizza nach Menton gefahren. Sie hatten in Monaco und Saint-Jean-Cap-Ferrat haltgemacht und die luxuriösen Villen und ausgedehnten Gärten bewundert oder waren durch die Altstadt von La Turbie geschlendert und hatten in einem kleinen Bistro zu Mittag gegessen. Sie hatten den Markt in Nizza besucht, und sie hatte die Stände bestaunt, deren Tische sich unter dem reichhaltigen Angebot an Pilzen, Oliven, Blumen und Gewürzen bogen. Beate hatte sich dem Wunsch hingegeben, nie wieder aus dem Labyrinth der Altstadtgassen zurückkehren zu müssen, die ein kleines Dreieck zwischen dem Burgberg, der Uferpromenade und den Parkanlagen des Paillon einnahmen. Ihr war damals klar geworden, dass sie ihre Krankheit nur mit ihm – mit André – würde besiegen können. Nicht erst, als sie damals an den Klippen stand, hatte sie eine Entscheidung über Leben und Tod getroffen, sondern bereits an jenem Tag, an dem sie sich entschieden hatte, in Frankreich zu bleiben, und ihren Mann allein nach Lübeck zurückreisen ließ. Sie schauderte noch heute, wenn sie daran dachte, mit welch eisigem Blick er sie beim Abschied angesehen hatte.
Sie trat einen Schritt zurück von der Felskante und legte ihren Kopf an Andrés Schulter. Sie wollte nicht an damals denken, sondern an das, was vor ihr lag. Ihr Herz pochte, wenn sie an Sophie dachte, die hoffentlich schon bald vor ihrer Tür stehen würde.
28. Kapitel
J ens sah mitgenommen aus, dachte Sophie und musterte ihn von der Seite. Trotz der Bräune wirkte sein Gesicht grau. Sie hatten während der Fahrt kaum ein Wort miteinander gesprochen. Er blickte stur auf die Küstenstraße. Seit Sophie mit Janina
Weitere Kostenlose Bücher