Gewitterstille - Kriminalroman
auszuwählen. Er tauschte einen verschwörerischen Blick mit seinen Kumpels und griff nach einem weiteren Paket. Dann las er:
»Er steht auf Brüste vom Kopf bis zur Hüfte, er lebt im Wittauer Forst und heißt: …«
»Horst«, brüllten die Jungs begeistert und krümmten sich wieder albern, während sie sich gegenseitig auf die Schultern klopften. Horst nahm sein Paket fröhlich johlend entgegen und wickelte es aus. Es war ein Buch darin, auf dem ein Wellensittich abgebildet war. Der Titel lautete: »Viel Spaß mit Vögeln«, was die Jungen wieder ausrasten ließ. Frau Dr. Hagentreu war inzwischen ziemlich sauer, wenngleich sie gegen das Geschenk in der Sache natürlich schwerlich etwas einwenden konnte. Horst griff auf der Tischmitte nach dem nächsten Geschenk. Ihm standen vor Lachen die Tränen in den Augen, und was er vorlas, war kaum zu verstehen.
»Er ist klein, sein Herz ist fein, denn ein Mädchen müsst’ er sein, drum fehlt seinem Namen nur ein ›a‹, dann wär’ er endlich Johann-a!«
Der etwas schmächtig geratene Johann fand das Gedicht weit weniger witzig als die anderen und lief vor Scham knallrot an. Für Petra war jetzt nicht nur die Weihnachtsstimmung dahin, sondern in ihr wuchs auch die Angst vor dem Gedicht, das an sie gerichtet sein würde. Sie betete zu Gott, dass eines der Mädchen ihren Namen bei der Verlosung gezogen hatte. Mit zittrigen Fingern wickelte Johann sein Geschenk aus und fand ein Barbie-Kleid darin. Frau Dr. Hagentreu wurde langsam richtig wütend und kündigte an, den Julklapp abzubrechen, wenn sich nicht umgehend alle beruhigten. In der Tat wurde es schließlich ein wenig ruhiger, und Johann und danach noch drei Mitschülerinnen lasen harmlose Gedichte vor und überreichten ihre harmlosen kleinen Geschenke. Marianne war mit dem nächsten Päckchen an der Reihe:
»Dies ist ein Geschenk für Petra.« Petras Magen krampfte sich vor Angst zusammen. Zu ihrer Erleichterung blieb die Katastrophe aus.
»… das Geschenk wird einschlagen wie eine Granate!« Marianne überreichte Petra das Paket, die sich wieder setzte und den Knoten des Paketbandes zu lösen begann. Es war totenstill in der Klasse – zu still. Petra brauchte einen Moment, bevor sie begriff, was sie in Händen hielt. Es war ein kleiner Handspiegel, und darunter lag eine Spielzeugpistole. Es klebte ein Zettel darauf, auf dem geschrieben stand: »Schau in den Spiegel, und du weißt, was du zu tun hast.«
Für einen kurzen Moment war es so still, dass man die sprichwörtliche Stecknadel auf den Boden hätte fallen hören können, dann grölten die Jungen wieder los. In Petras Kopf drehte sich alles, und ihr wurde übel.
»Wer, zum Teufel, war das?«, brüllte Frau Dr. Hagentreu fassungslos. »Ich will augenblicklich wissen, wer das getan hat, ansonsten bleiben alle, ich wiederhole – alle – mit Ausnahme von Petra heute Nachmittag hier und können sich auf ein Gespräch mit dem Schulleiter einstellen.«
Es dauerte eine Weile, bis sich das Tohuwabohu legte.
»Ich frage das jetzt zum letzten Mal«, wiederholte die Lehrerin drohend. »Wer war das?«
Die Jungs starrten auf ihre Hände und den Boden und sagten keinen Ton.
»Also gut.« Frau Dr. Hagentreu holte eine Plastiktüte aus ihrer Ledertasche und sammelte die Geschenke ein. Petra war einfach zu schwach, um darauf hinzuweisen, dass ihr Geschenk für Juliane zerbrechlich war. Sie starrte einfach nur auf die Lehrerin, die wütend die Geschenke zusammenraffte und achtlos in ihre Tasche warf. Petra hörte es weniger, aber sie spürte, dass das kleine Porzellanpferd genau wie ihre Träume in tausend Stücke zerbrach.
Niemand würde von dem von ihr ausgewählten Gedicht Notiz nehmen:
Die Jugend lernt im Fallen geh’n.
Sie muss sich halb verbrennen, halb versehnen
und zwischen Sturm und wilden Klippen steh’n.
(Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau)
5. Kapitel
I ch komm ja schon«, rief Anna und lief zur Haustür, an der nun schon zum zweiten Mal jemand klingelte. Sie warf gewohnheitsmäßig einen kurzen prüfenden Blick in den Flurspiegel und öffnete dann.
»Entschuldigen Sie bitte die Störung. Ich suche Frau Möbius – ist sie vielleicht bei Ihnen?«
Anna brauchte einen Moment, bis sie wusste, wer der junge Mann war, der mit einer tief in die Stirn gezogenen Basecap in Turnschuhen und ausgeblichenen Jeans vor ihr stand.
»Ach, Herr Asmus, kommen Sie doch einen Moment herein.« Anna kannte den Mitarbeiter des Pflegedienstes, der Frau Möbius
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