Gewitterstille
hatte, als wolle sie keine Minute länger als nötig in der Kleinstadt verschwenden.
Anna betrachtete mit Kopfschütteln das Porträt der zweifelsohne stark gelifteten Mittfünfzigerin, die so sehr nach medialer Aufmerksamkeit zu gieren schien, dass sie sogar den Tod der eigenen Mutter vermarktete. Anna schlug den Artikel wieder zu und nahm ein anderes Blatt zur Hand, in dem neben einem Bild von ihr selbst Bilder von Sophie und ihren Klassenkameradinnen veröffentlicht waren. Da es keine aktuellen Neuigkeiten gab, erging sich die Presse in Mutmaßungen und veröffentlichte nichtssagende Stellungnahmen angeblicher Freundinnen von So phie über ihren Charakter und ihre geheim gehaltene Beziehung zu Jens Asmus. Kaum ein Bürger Lübecks zwe ifelte angesichts der Pressemeldungen mehr daran, dass Sophie tot war. Bundesweit wurde täglich nicht nur in der Tagespresse, sondern auch in den einschlägigen TV -Magazinen über den Fall berichtet. Die Tatsache, dass Sophie die Tochter des angesehenen Lübecker Oberstaatsanwalts war, der nur gute zwei Jahre zuvor tödlich verunglückt war, gab dem Fall zusätzlichen Zündstoff. Die Presse lechzte nach rührseligen Enthüllungen über das junge Mädchen, dessen Lebensgeschichte nicht nur durch seine Behinderung, sondern auch durch den Verlust der leiblichen Mutter geprägt gewesen war. Die einschlägigen Gazetten schreckten auch nicht davor zurück, Erklärungen dafür zu erfinden, weshalb die Staatsanwältin Anna Lorenz die Tochter ihres ehemaligen Abteilungsleiters in ihr Haus aufgenommen hatte. Anna schäumte vor Wut, als sie l as, dass eine angebliche Liebesbeziehung zu Sophies Vater hierfür Anlass gewesen sein sollte. Ihre Schläfen pochten, und es schnürte ihr die Kehle zu angesichts des trügerischen Bildes, das die Journalisten von Sophies Vater, dem angesehenen, angeblich unfehlbaren Oberstaatsanwalt Tiedemann, zeichneten. Sie allein wusste, dass Tiedemann versucht hatte, sie im Modus Operandi eines damals ge suchten Serientäters zu töten, um den Verdacht von sich abzulenken. Natürlich hätte sie sich seinerzeit offenbaren müssen, wenn der Serientäter nicht kurz nach Tiedemanns tödlichem Unfall ebenfalls ums Leben gekommen wäre. Er hatte sich bei seiner Festnahme erschossen. Als sie aus ihrem Koma erwacht war, hatte niemand Zweifel daran gehabt, dass der Serientäter auch sie umzubringen versucht hatte und Tiedemann sie als ihr Retter davor hatte bewahren wollen.
Wie hätte sie Sophie damals die Wahrheit zumuten sollen? Anna war nach wie vor der Meinung, dass es richtig war, die Geheimnisse jener Nacht in ihrem Herzen zu verschließen. Dennoch war es unerträglich, gegenwärtig täglich an die Tragik und die Lügen jener Nacht erinnert zu werden.
Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken. Kommissar Braun war am Apparat. Seine Stimme klang ernst, und seine Schilderungen waren sachlich. Anna hatte das Gefühl, dass seine Worte wie aus weiter Ferne zu ihr vordrangen.
»Der Fundort liegt in unmittelbarer Nähe des Priwallhafens«, sagte Braun. »Es gibt Hinweise, dass Asmus hier vor ein paar Tagen in Begleitung einer jungen Frau gese hen worden ist. Irritierend ist allerdings die Tatsache, dass keiner der befragten Zeugen sich daran erinnern kann, ein Mädchen im Rollstuhl am Hafen gesehen zu haben. Ich habe aber bereits einige Leute abgestellt, die die Schiffs eigner und den Hafenwart befragen, um herauszufinden, ob und wo Asmus sich hier gegebenenfalls aufgehalten haben könnte.« Es war für einen Moment lang still am anderen Ende der Leitung.
»Wenn Sie etwas brauchen, Frau Lorenz, oder Fragen haben, wissen Sie ja, wo Sie uns finden.«
»Ja, vielen Dank.«
Anna bemühte sich, ihre Tränen zurückzuhalten, um Emily nicht zu beunruhigen. Ihrer täglichen Routine folgend, brachte sie sie ins Bett. Dann rief sie Georg an, von dem sie wusste, dass er sich sofort zu ihr auf den Weg machen würde. Die anfallenden Hausarbeiten erledigte sie mechanisch. Erst deckte sie den Abendbrottisch ab, dann befüllte sie die Waschmaschine. Erst nachdem sie sich wieder an den Küchentisch gesetzt und die Ruhe und Leere gespürt hatte, die sie umgab, bevor Georg endlich eintraf, ließ sie den Tränen freien Lauf. Es war bereits eine Woche der quälenden Ungewissheit und Anspannung vergangen, seit Sophie verschwunden war, ohne dass es eine Nachricht oder ein Lebenszeichen von ihr gegeben hatte. Bis zum Morgen hatte auch die Öffentlichkeitsfahndung keine heiße Spur
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