Perry Rhodan Neo 006 - Die dunklen Zwillinge
1.
7. Juli 2036
»Es kann losgehen!«
Sid González kam ihnen winkend über den Strand von Owey Island entgegengerannt, nachdem er den »Schatz« im Sand vergraben hatte. Er trug einen langen Parka und darunter ein Fleece.
Sid fror. Wie sie alle.
Owey Island war den Winden des Atlantiks nahezu ungeschützt ausgeliefert. Selbst im Juli blies einem die stete, oft feuchte Brise die Wärme aus den Knochen.
John Marshall schlug den Kragen höher. Diese winzige Insel vor der Westküste Irlands musste wohl der unpassendste Fleck der Erde sein, um Wüste zu spielen.
Und dennoch taten sie es.
Weil ein junger Latino mit einer unheimlich anmutenden Gabe es so wollte.
»Seid ihr bereit?« Sid blieb vor ihnen stehen und zog Parka und Fleece aus. Der Wind ließ das T-Shirt flattern, das ihm viel zu groß war. Er hielt ihnen die Hände hin. John nahm die Linke des Jungen.
Die Haut der Finger und Handflächen war ungewöhnlich hell und weich. Früher hatte sich John gewundert, welcher genetischen Laune der Natur diese unpassende Bleichheit zu verdanken war. Seit er den Jungen Sid mental auf der Reise in seine Vergangenheit begleitet hatte, wusste er, woher die bleiche Haut rührte. Sie war das Werk eines Menschen. Eines Menschen, der von sich geglaubt hatte, in bester Absicht zu handeln.
Die Erinnerung, die zum Teil seines eigenen Erlebens geworden war, ließ Übelkeit in John Marshall aufsteigen, Wut. Er unterdrückte die Aufwallung, die nicht die seine war, und nahm Sids Hand. John war ein Telepath. Er vermochte es, die Gedanken anderer Menschen zu lesen. Er erfuhr, was sie beschäftigte, erkannte Geheimnisse, die oft den betreffenden Menschen selbst verborgen geblieben waren.
Und er fühlte mit ihnen. Passte er nicht auf, wurden ihre Sorgen zu seinen, ihre Ängste zu den seinen, verlor er sich schließlich selbst.
Wuriu Sengu nahm die rechte Hand Sids. Auch der stämmige Japaner, der seine schwarzen Haare stets mit Gel zu Stacheln formte, hatte eine übersinnliche Gabe.
Seine Familie stammte aus der Präfektur Fukushima. Wurius schwangere Mutter hatte sich nach den Kernschmelzen der nahen Atommeiler wochenlang vor den Evakuierungstrupps versteckt. Sie hatte gespürt, dass sie ihre Heimat niemals wiedersehen würde, sollte sie sie aufgeben. Schließlich hatte die Armee sie gefunden und mitgenommen. Sengus Mutter hatte recht behalten: Sie war einige Jahre später in einer Flüchtlingsunterkunft gestorben. Krebs. Ausgelöst durch dieselbe Strahlung, die ihrem Sohn mutmaßlich eine Gabe geschenkt hatte, die keinem anderen Menschen der Erde gegeben war.
Neben ihnen fassten sich Ras Tschubai und Anne Sloane an den Händen.
Ras war ein hochgewachsener, athletischer Mann mit tiefschwarzer Haut und ein Teleporter wie Sid González. Im Grundsatz wenigstens. Beide vermochten mittels einer Willensanstrengung ihre Körper von einem Ort an einen anderen zu versetzen. Doch die Gabe Ras Tschubais hinkte der Sids weit hinterher. Und das trotz der Gewissenhaftigkeit des Sudanesen, der einem strikten, selbst auferlegten Trainingsprogramm folgte.
Mit Rücksicht auf Ras' Beschränkungen hatte Sid ihm Anne zugeteilt. Die Telekinetin war schlank und leicht. Eine Last, hofften sie, die Ras zu bewältigen vermochte. John vermied es Anne anzusehen. Er fühlte sich zu ihr hingezogen, aber für Gefühle wie diese, ermahnte er sich, war in diesem Augenblick kein Platz. Später. Sollte es ein Später geben.
Sid nickte zufrieden, dann sprach er in das Headset seines Funkgeräts: »Allan, wir sind so weit. Wie steht es bei dir?«
»Ich bin so gut wie erfroren«, kam die Antwort, die John über sein Headset mithörte, »und Sue wird gleich von der nächsten Böe weggeweht. Also los jetzt!«
John drehte den Kopf und sah in einigen Hundert Metern Entfernung auf dem höchsten Punkt von Owey Island zwei Menschen stehen. Einen Mann mit einem Gewehr und ein Kind.
Sie waren ein ungleiches Paar. Allan Mercant, der alte Geheimdienstler, der sich aus dem Ringen der Großmächte verabschiedet hatte, das seinen Lebenssinn ausgemacht hatte. Und Sue, das Mädchen mit dem Armstumpf, das im Körper eines Kindes feststeckte und sich nichts mehr wünschte, als wie alle anderen zu sein, akzeptiert zu werden. Sue hatte an Sids Sturm über den Strand teilnehmen wollen.
»Wozu?«, hatte Sid sie in der schroffen Art abgewiesen, die Teenagern zu eigen ist. »Du kannst nichts, was uns nützen könnte!«
»Es geht gleich los!«, beschied Sid Mercant. Er wandte
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