Gewitterstille
wunder schöner Traum vorgekommen. Sie war mitten in der Nacht in der Dunkelheit der Schlafkoje aufgewacht und hatte ihren Arm vergebens nach Jens ausgestreckt. Sie hatte dagelegen und sich dem Gefühl der Leere hingegeben, die sie empfand, als sie nur sein kaltes Kissen hatte ertasten können, auf das er mit rotem Lippenstift FÜR IMMER DEIN ! geschrieben hatte. Das war kurz vor ihrem Aufbruch gewesen. Kurz bevor er zum Schiff zurückkommen sollte, um sie abzuholen und zu Anna zu fahren. Ihr Herz hatte in tausend Stücke zu zerspringen gedroht bei dem Gedanken, sich keine halbe Stunde später für lange Zeit von ihm trennen zu müssen, und dennoch hatte sie sich auf sonderbare Weise glücklich und lebendig gefühlt. Sophie schob den klapprigen Rollstuhl, den sie auf der Fahrt von Lübeck nach Frankreich in einer Klinik geklaut hatten, näher an das Fenster und blickte auf den Innenhof der u-förmig angeordneten trostlosen Anlage des billigen Motels, in dem sie kurz vor Nizza abgestiegen waren. Alles war anders gekommen, als sie gedacht hatte. Wäre in jener Nacht, als Jens sie gerade nach Hause bringen wollte, doch bloß kein Polizeiwagen am Hafen aufgetaucht, dachte sie. Plötzlich waren sie beide in Panik geraten und hatten geglaubt, man sei ihnen auf den Fersen. Wenn er in jener Sekunde doch bloß nicht entschieden hätte, sie doch mitzunehmen … Sie hasste es, auf ihn zu warten, und wusste auch heute wieder nicht, wo er war und was er tat. Seine Versprechen, ihr Geld zu nutzen, um ein abgelegenes kleines Haus am Strand anzumieten, hielt er nicht ein. Er suchte nach Ausflüchten, weshalb er keine Bleibe für sie fand, und er log, wenn er ihr weiszumachen versuchte, ihr Geld sei außerhalb des Hotels sicher versteckt. Sophie wusste, dass er es verspielt hatte. Zum hundertsten Mal fuhr sie mit ihrem Blick die Risse in der kahlen gelben Wand über dem Bett nach, während die Sekunden träge dahinschlichen. Sie musste schon wieder zur Toilette. Sie verfluchte die enge Tür zum Badezimmer, die ihrem Rollstuhl den Weg hinein verwehrte. Letztlich war es kaum von Bedeutung, denn auch das Badezimmer war so beengt, dass selbst ein Gesunder sich am Waschbecken vorbeizwängen musste, um an die Toilette zu gelangen. Sich mit dem Rollstuhl im Bad zu bewegen war somit ohnehin unmöglich.
Die Flügel, die ihr ihre Beziehung einst verliehen hatte, waren gewaltig gestutzt worden. Nie in ihrem Leben hatte sie sich mit ihrer Behinderung so hilflos gefühlt wie in diesen Tagen, wo sie ständig auf Jens’ Hilfe angewiesen war. Alles hatte anders laufen sollen. Sie war dazu verdammt, sich in diesem Zimmer aufzuhalten und die Wände anzustarren, obwohl das Meer, die paradiesische Landschaft und die Städte Südfrankreichs zum Greifen nah waren. Wie oft hatte Sophie sich gewünscht, die pulsierenden Großstädte Marseille, Nizza und Toulouse zu erkunden und die mondänen Badeorte an der Côte d’Azur zu besuchen. Doch alles, was sie jetzt tat, war, in einem schäbigen Apartment zu sitzen und Stunde um Stunde auf Jens zu warten. Bereits die vierzehn Stunden Fahrt hierher waren eine Qual für sie gewesen. Sie hatten zweimal zum Tanken angehalten, wobei Jens allein aus dem Wagen ausgestiegen war und sie mit dem Nötigsten versorgt hatte. Als sie zur Toilette musste, waren sie von der Autobahn abgefahren, und Jens hatte sie am Wegrand in ein abgelegenes Gebüsch geschleppt, damit sie ihre Blase entleeren konnte, während er sie festhielt. Sie hatten sich so ungeschickt angestellt, dass sie ihm auf die Schuhe gepinkelt hatte, was ihr noch jetzt die Schamesröte ins Gesicht trieb.
Wäre nur das mit dem Rollstuhl nicht passiert, dachte sie.
Sophie schaute auf die Uhr. Es war halb fünf Uhr nachmittags. Die Zeitungsnachrichten lasteten tonnenschwer auf ihrem Gewissen. Man hielt sie für tot, für ein Opfer des Altenheimmörders, der Jens nicht war – nicht sein konnte.
Sophie erinnerte sich, wie sehr sie ihren Vater dafür gehasst hatte, dass er ihr über Jahre vorgegaukelt hatte, ihre Mutter sei tot. Jetzt machte sie selbst die Welt glauben, dass sie nicht mehr am Leben war. Natürlich gab es niemanden, der sie so betrauern würde, wie sie als Kind ihre Mutter betrauert hatte. Dennoch wusste sie, dass ihre Freundinnen und auch Anna und Georg sich große Sorgen um sie machten und nicht mehr ruhig schliefen. Am meisten aber beschäftigte Sophie die Frage, was ihre Mutter bei dem Gedanken empfand, dass die kaum gekannte Tochter
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