Gewitterstille
sprechen, aber ich möchte dich gern so schnell wie möglich wieder mit nach Frankreich nehmen, wenn du mich lässt. Wir haben so vieles nachzuholen, und du wirst eine Weile brauchen, bevor du wieder richtig gesund bist.«
Sophie sah ihre Mutter an, und in diesem Moment schien es ihr, als sei sie wieder ein kleines Mädchen.
»Ich habe dich vermisst, Mama«, flüsterte sie und fiel dann in einen ruhigen Schlaf.
58. Kapitel
A nna schluchzte, während sie in Emilys Zimmer ihre kleinen Hemdchen und Hosen zusammenlegte. Immer wieder sah sie auf die Uhr. Die Zeit schien stillzustehen. Jede weitere Minute der quälenden Ungewissheit verlängerte ihr Martyrium. Die guten Nachrichten, die sie aus dem Krankenhaus über Sophies Gesundheitszustand erhalten hatte, waren nur für Sekunden geeignet gewesen, die Gedanken an Emily zu verdrängen. Hier im Kinderzimmer war die Angst vor ihrem Verlust wieder allgegenwärtig. Georg hatte ihr eigentlich verboten, nach oben zu gehen. Bevor er gegangen war, um ein paar Sachen aus seiner Wohnung zu holen, hatte er sie im Wohnzimmer auf das Sofa verfrachtet und den Fernseher eingeschaltet, um ihr ein wenig Ablenkung zu verschaffen. Anna hätte nicht einmal sagen können, ob dort ein Film oder eine Talkshow lief, als sie aufgestanden und nach oben gegangen war.
Im Kinderzimmer fühlte sie sich Emily am nächsten, wenn auch der Schmerz sie beim Anblick ihrer Spielsachen, der Kleider und Plüschtiere fast erstickte. Der Gedanke, Emily nie wieder in ihrem Gitterbettchen unter dem rosa-weiß karierten Betthimmel einschlafen zu sehen, war unerträglich. Anna strich über das kleine Kopfkissen mit dem goldenen Krönchen, auf dem Emilys Name eingestickt war, und wünschte sich verzweifelt, ihre warme, weiche Hand halten zu dürfen, während sie darauf einschlief.
Der Weinkrampf überfiel Anna so heftig, dass sie sich mit Emilys Teddybär im Arm auf den Fußboden sin ken ließ, sich dort zusammenkauerte und hemmungslos schluchzte. Ihr Krampf löste sich erst, als es unten an der Tür Sturm klingelte. Für einige Sekunden war sie wie gelähmt, und ihre Beine zitterten, als sie schließlich die Treppe hinunter in den Flur stolperte. Ihr wurde fast schwarz vor Augen, als sie Bendt hinter der Milchglasscheibe erkannte. Anna riss die Tür auf und musste ihn nur ansehen, um zu wissen, dass er Neuigkeiten mitbrachte. Er trug Emilys Stoffhasen in der Hand, den er in dem Hotel in Hamburg gefunden hatte, in dem Petra Kessler mit Emily abgestiegen war.
»Wir haben Emily, Anna. Es geht ihr gut.«
Anna stieß einen Schrei der Erleichterung aus und spürte gleichzeitig, dass ihre Beine unter ihr zusammensackten wie die einer Marionette. Bendt fing sie auf und ließ sich mit ihr auf die Knie sinken, während er sie in den Armen hielt und sie ihren Freudentränen freien Lauf ließ.
»Wo …? Wie …?«, war das Einzige, was sie hervorbringen konnte.
»Es geht ihr gut«, wiederholte Bendt, der ebenfalls sichtlich bewegt war. Er nahm Annas Gesicht in seine Hände, strich ihr die tränennassen Haare aus dem Gesicht und küsste ihre Wangen und ihre Stirn.
»Petra Kessler hat Emily auf einer Raststätte in Friedrichshafen zurückgelassen, kurz bevor sie nach Liechtenstein aufgebrochen und verunglückt ist.«
»Warum …? Wo ist Emily jetzt?«
»Warum sie Emily zurückgelassen hat, werden wir wahrscheinlich nie erfahren. Auf jeden Fall ist Emily in Begleitung eines Psychologen und fliegt heute noch nach Hamburg. Georg wurde von Braun schon informiert. Wir holen ihn gleich ab, und ich fahre euch dann zum Flughafen nach Hamburg. Ihr solltet im Moment beide nicht hinter einem Steuer sitzen.« Bendt sah Anna an. »Keine zwei Stunden, Anna, und du kannst sie wieder in den Arm nehmen.«
Anna konnte ihr Glück kaum fassen. Gleichzeitig sorgte sie sich um Emily und hoffte inständig, dass ihre kleine Seele bei alldem keinen Schaden genommen hatte.
»Was heißt, es geht ihr gut? In welcher Verfassung war sie, als man sie gefunden hat? Was hat die Frau mit ihr gemacht und …«
»Langsam, eins nach dem anderen.« Bendt lächelte und hielt Annas Hände fest in seinen. »Emily ist, nachdem man sie gefunden hatte, in einer Klinik in Friedrichshafen untersucht worden. Offenbar hat Petra Kessler ihr starke Beruhigungsmittel gegeben …«
»O Gott.« Anna schlug die Hände vors Gesicht.
»… die nach Angaben der Ärzte keinen Schaden angerichtet haben. Als man dann herausgefunden hatte, wer sie ist, hat man umgehend
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