Gewitterstille
gar nicht, dass Sie einen Schlüssel haben.«
»Ich habe keinen Schlüssel, ich bin über die Terrasse ins Haus gekommen.«
»Über die Terrasse?«, fragte Anna verwundert.
Der Arzt nickte, legte seine Lesebrille zurück in das Etui und blickte auf die Uhr. Er schien unter Zeitdruck zu sein.
»Ganz offenbar hat Frau Möbius die Hitze im Obergeschoss meiden und die Nacht bei offenen Türen in ihrem Sessel verbringen wollen. Wissen Sie, wie wir die Angehörigen von Frau Möbius erreichen können – oder besser, können Sie das gegebenenfalls erledigen?«
Anna dachte einen Moment lang nach. »Ich weiß, dass sie eine Tochter hat. Ich glaube, sie lebt irgendwo bei Berlin.«
»Ja, richtig. Sie heißt Petra. Petra Kessler, wenn ich mich recht erinnere. Frau Möbius hat manchmal von ihr erzählt. Wir sollten mal in ihrem Telefonbuch nachschauen. Sie wird die Nummer sicherlich notiert haben.« Dr. Jung deutete auf den Beistelltisch neben dem Fernsehsessel, auf dem das Telefon auf einem Häkeldeckchen abgestellt war. Anna nahm vorsichtig das in dunkelrotes Leder eingebundene Büchlein zur Hand und begann darin zu blättern.
»Petra – hier steht sie.« Anna zögerte, selbst zum Appa rat zu greifen. Sie wollte nur ungern die Überbringerin der traurigen Nachricht sein, zumal sie überhaupt nicht einschätzen konnte, wie die Frau am anderen Ende reagieren würde. Dr. Jung erkannte anscheinend ihr Unbehagen und stellte seine Tasche wieder auf dem Boden ab.
»Ich mache das, Frau Lorenz. Sie müssen mir nur die Nummer ansagen.« Der Arzt griff nach dem Apparat und begann zu wählen.
4. Kapitel
P etra Kesslers Hände zitterten, als sie den Telefonhörer sinken ließ. Sie legte den Apparat zurück in die Aufladestation, zog ihre weiße Bluse zurecht und strich über die makellos weiße Tagesdecke ihres Bettes. Dann begann sie, ihrer täglichen Routine folgend, die Kissen auf dem Bett zu dekorieren. Jedes Kissen hatte seinen Platz, jede Falte und jeder Kniff musste sitzen. Nicht einmal der Anruf des Arztes vermochte sie daran zu hindern, alles perfekt herzurichten. Sie warf einen letzten kritischen Blick auf ihr Werk und ging ins Bad. Dort öffnete sie den Spiegelschrank und rückte eine der nach links ausgerichteten Parfümfläschchen im obersten Regal zurecht. Dann nahm sie einen der Lippenstifte zur Hand, die nach Farben geordnet neben den unzähligen Tiegeln und Tuben ihres Make-ups aufgereiht waren. Die verlässliche Ordnung in ihrem Schrank erfüllte sie mit tiefer Zufriedenheit. Sie schürzte die Lippen und trug das dunkle Rot auf, das die vornehme Blässe ihres schmalen Gesichts unterstrich. Dann griff sie nach ihrem Handspiegel und zog ihren Lidstrich nach. Ihren wachsamen Augen entging das winzige Härchen nicht, das sie am Vorabend bei der Korrektur ihrer Augenbrauen offensichtlich übersehen hatte. Sie zupf te es mit der Pinzette heraus und war endlich zufrieden. Ihr Make-up und Puder verbargen die Spuren des Alters, gegen die sie verzweifelt, aber nicht zuletzt dank der Hilfe ihres plastischen Chirurgen erfolgreich ankämpfte. Endlich legte sie den kleinen Spiegel, mit dem sie eine der schmerzvollsten Erinnerungen ihres Lebens verband, wieder an seinen Platz zurück. Obwohl sie viele Jahre zurücklagen, sah sie die Ereignisse an jenem Schultag im Dezember in diesem Moment wieder vor sich, als wäre sie immer noch das stille, dickliche Mädchen von damals.
Sie war aufgeregt. Liebevoll strich sie über den Geschenkeinband des kleinen Päckchens, an dessen Unterseite sie eine Herzoblate mit dem Namen »Juliane« aufgeklebt hatte. Vorsichtig schlug sie ein weiches Handtuch darum, bevor sie es in ihrem Schulranzen verstaute. Petra wollte mit ihrem Julklapp-Geschenk Eindruck machen. Sie hatte gespart, um das kleine weiße Porzellanpferd kaufen zu können, das sie selbst für ihr Leben gern besessen und in ihrem Setzkasten untergebracht hätte. Eigentlich sprengte der Preis den vorgesehenen Rahmen erheblich, aber das war Petra gleichgültig gewesen. Sie hatte ein Ziel: Juliane war neu in der Klasse, und vielleicht hatte Petra eine Chance, in ihr endlich eine Freundin zu finden. Denn nichts wünschte sie sich sehnlicher. Eine Freundin, der sie ihre Geheimnisse und Träume anvertrauen könnte. Vor allem einen Traum, den Traum von Christoph. Petras Herz begann heftig zu klopfen, wenn sie an ihn dachte. Er war mit fünfzehn einer der Ältesten in der Klasse. Petra fand ihn – wie die meisten anderen Mädchen auch –
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