Gezeiten der Begierde - Jordan, N: Gezeiten der Begierde - To tame a dangerous lord/Courtship-Wars 5
beigepflichtet, dass es nicht feige wäre, unter solchen Umständen zu fliehen – vielmehr wäre es weise.
Nachdem sie sich überzeugt hatte, dass die Pistole geladen war, öffnete sie ihre Zimmertür und lugte
hinaus auf den Flur. Es war niemand dort, wie sie im matten Schein der Wandfackel sehen konnte.
Sie schlüpfte aus dem Zimmer, schloss leise die Tür und schlich den Korridor hinunter zum hinteren Teil des Gasthofes. Aus dem Schankraum unten hörte sie Gelächter und grölende Männerstimmen. Derweil bog sie um eine Ecke, hinter der sie auf ein Versteck hoffte.
Erleichterung überkam sie, als sie eine offene Tür entdeckte, die in einen kleinen Salon führte, kein weiteres Schlafgemach. Ein Feuer knisterte im Kamin, und eine Lampe erhellte die vordere Hälfte des Raumes.
Kaum vernahm sie unheimliche Schritte von der Treppe, huschte Madeline in den Salon und stellte sich hinter der Tür auf Verteidigungsposten.
Baron Ackerbys Avancen wurden während der letzten drei Wochen beständig dreister, seit Madeline ihre langjährige Stellung als Gesellschafterin bei einer reizbaren, aber dennoch liebenswerten älteren Adligen mit deren Ableben verlor. Nun war Madeline auf dem Weg nach London, wo sie sich bei einer Agentur um eine neue Stelle bewerben wollte, musste sie doch dringender denn je für ihren eigenen Unterhalt sorgen. Ihre feste Überzeugung, dass wahre Liebe etwas höchst Kostbares war, hatte sie dazu bewogen, ihrem Bruder zu helfen und ihm ihre sämtlichen Ersparnisse für die Fahrt nach Schottland zu geben.
Madeline verabscheute es, in solch einer prekären Lage zu sein, buchstäblich verarmt und der Gnade eines mächtigen, vermögenden Herrn ausgeliefert, der glaubte, über alles und jeden in Chelmsford, Essex, zu herrschen. Sie hegte keinerlei Zweifel, dass Baron Ackerby sie vor allem deshalb begehrte, weil sie sich seinen Annäherungsversuchen stets widersetzt hatte.
Warum sonst sollte er einer unscheinbaren jungen Frau nachstellen, die zudem für ihren wachen Verstand berüchtigt war, wenn nicht um des Reizes willen, sie zu besiegen und gesellschaftlich zu vernichten?
Offenbar nährte ihr Widerstand seine Entschlossenheit, sie zu seiner Mätresse zu machen. Gleichwohl war Madeline sprachlos gewesen, als Ackerby die Frechheit besaß, ihr dieses schamlose Angebot keine zwei Stunden nach dem Begräbnis ihrer Arbeitgeberin zu unterbreiten.
Betrüblicherweise war Madelines Herkunft überdies von Nachteil. Die französischen Emigranten in Essex waren größtenteils arm und hatten wenig Möglichkeiten, sich gegen die Launen des Landadels und der vermögenden Grundbesitzer zu wehren. Und auch wenn Madeline bloß zur Hälfte französisch war – ihr Vater war ein Captain der British Army und ein brillanter Spion unter General Lord Wellington gewesen – , konnte sie wenig gegen einen wollüstigen Adligen ausrichten, der sich in den Kopf gesetzt hatte, sie in seinen Privatbesitz einzugliedern.
Bibbernd in ihrer spärlichen Kleidung, stand Madeline in dem Salon und horchte. Sie hätte sich besser eine Bettdecke umgewickelt, die sie vor der Kälte abschirmte. Selbst mit der Pistole in der Hand fühlte sie sich verwundbar. Und sie hasste dieses Gefühl von Ohnmacht. Ihr Herz schlug viel zu schnell, während sie sich fragte, welchen Vorwand der Baron den Wirtsleuten präsentieren würde, weshalb er sie verfolgte …
In diesem Moment stellten sich ihre Nackenhaare auf. Sie hatte eindeutig geirrt, als sie den Salon für verlassen hielt, denn nun spürte sie eine bedrohliche Präsenz hinter sich.
Gleich darauf setzte ihr Herzschlag aus, als sich eine starke Männerhand plötzlich um ihr Handgelenk schloss wie eine Fessel. Mit einem stummen Schrei fuhr Madeline herum, doch da entriss er ihr auch schon ihre Pistole. Der Druck, mit dem seine Arme sie festhielten, verbot Madeline jede Bewegung.
Entsetzt blickte sie zu einem Fremden mit rabenschwarzem Haar auf. Er war groß, kräftig gebaut, und strahlte etwas Gefährliches aus. Doch es war seine maskuline Schönheit, die Madeline den Atem raubte: kantige Züge, geschwungene schwarze Brauen und leuchtend blaue Augen, umrahmt von dichten, dunklen Wimpern.
Sein Blick schien sie regelrecht zu bannen.
Gütiger Himmel, Maman … was tat ich? Die Antwort kannte sie bereits.
Alles deutete darauf hin, dass sie vom Regen in die Traufe geraten war.
Rayne Kenyon, Earl of Haviland, hatte während seiner illustren Laufbahn beim britischen Geheimdienst schon vieles
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