Gezeiten der Liebe
du in aller Ruhe nachdachtest und deine Schlüsse zogst.«
»Ihr habt mir ... Zeit gelassen. Zeit, zu beobachten und in aller Ruhe nachzudenken. Alles, was an mir anständig ist, kommt von euch beiden.«
»Nein, Ethan, wir haben dir nur Liebe gegeben. Und eben Zeit und Raum.«
Er ging zum Fenster hinüber, um auf das Wasser und die Boote zu schauen, die sanft am Anlegesteg schaukelten. Dann beobachtete er einen Reiher, der über den von der Hitze dunstigen Himmel mit den bauschigen Wolken glitt.
»Du warst dazu bestimmt, unser Sohn zu sein. Hier zu leben. Du hast das Meer lieben gelernt, als wärst du hier geboren. Cam wollte einfach immer nur schnell sein, und Phillip war ein Genießer. Aber du
Er wandte sich ihm wieder zu. Sein Blick war nachdenklich. »Du hast jeden Zentimeter des Boots, jede Welle, jede Flußbiegung genauestens studiert. Stundenlang übtest du, einen Knoten zu binden, und niemand mußte dir auf die Nerven fallen, damit du die Decks schrubbtest.«
»Es fiel mir leicht, von Anfang an. Du wolltest, daß ich einen College-Abschluß mache.«
»Für mich.« Ray schüttelte den Kopf. »Für mich, Ethan. Väter sind schließlich auch nur Menschen, und ich machte eine Phase durch, in der ich dachte, meine Söhne müßten die Wissenschaft ebenso lieben wie ich. Aber du hast getan, was das Richtige für dich war. Ich war so stolz auf dich. Ich hätte es dir öfter sagen sollen.«
»Du hast es mir immer gezeigt.«
»Dinge auszusprechen ist auch sehr wichtig. Wer weiß das besser als ein Mann, der sein Leben damit zugebracht hat, jungen Menschen die Liebe zur Sprache beizubringen?« Er seufzte. »Aber ich weiß auch, daß es dir oft schwerfällt, deine Gefühle in Worte zu fassen, Ethan. Du darfst nur eines nicht vergessen. Du und Grace, ihr habt euch noch sehr viel zu sagen.«
»Ich will sie nicht kränken.«
»Du wirst es tun«, sagte Ray leise, Indem du es zu vermeiden versuchst. Ich wünschte, du könntest dich mit meinen
Augen sehen.« Er schüttelte den Kopf. »Nun ja, das Schicksal läßt sich eben Zeit. Denk an den Jungen, Ethan, denk an Seth – und welchen Teil von dir selbst du in ihm wiedererkennst.«
»Seine Mutter ...«, begann Ethan.
»Denk an den Jungen«, sagte Ray nur und war verschwunden.
16. Kapitel
Die leichte Sommerluft trug nicht den geringsten Hauch von Regen mit sich. Der Himmel war von kräftigem, überwältigendem Blau, eine weitgespannte Kuppel, über der ein matter Dunstschleier lag, mit zarten Wolken geschmückt. Ein einsamer Vogel sang aufgeregt, als sei er versessen darauf, sein Lied noch schnell zu beenden, bevor der lange Tag vorüber war.
Sie war so nervös wie ein Teenager am Abend des Abschlußballs. Dieser Gedanke brachte Grace zum Lachen. Kein Teenager hatte jemals so schwache Nerven gehabt.
Sie experimentierte mit ihrem Arm und wünschte, sie hätte Annas lange, glänzende Locken – exotisch, wie eine Zigeunerin. Sexy.
Aber so war es nun mal nicht, sagte sie sich bestimmt. Und es würde auch nie so sein. Zumindest hob der kurze, schlichte Haarschnitt die hübschen Goldohrringe hervor, die Julie ihr geliehen hatte.
Julie war so süß gewesen, so aufgeregt über das, was sie als das »große Date« bezeichnete. Sie hatte direkt eine Diskussion über die Frage vom Zaun gebrochen, was sie wozu tragen sollte – und natürlich den Inhalt von Grace’ Kleiderschrank als völlig daneben verworfen.
Sich von Julie ins Einkaufszentrum mitschleifen zu lassen, war der reine Leichtsinn gewesen. Nicht das Julie große Überredungskünste hätte aufbieten müssen. Es war lange her, seit Grace einfach aus Spaß am Einkaufen losgezogen war. In den zwei Stunden, in denen sie durch die Läden geschlendert waren, hatte sie sich so jung und unbekümmert gefühlt. Nichts schien ihr wichtiger, als das richtige Outfit zu finden.
Dennoch hätte sie sich eigentlich kein neues Kleid kaufen dürfen, auch wenn sie es im Sonderangebot erstanden hatte. Aber sie konnte einfach nicht widerstehen. Nur dieses eine Mal, dieser eine kleine Luxus. Sie wollte so unbedingt etwas Neues und Unverbrauchtes für diesen besondern Abend haben.
Auf Anhieb war sie verknallt gewesen in das sexy, raffinierte kleine Schwarze mit den Spaghettiträgern und dem enganliegenden Rock. Und in das geradezu verboten sinnliche rote Kleid mit dem kühnen, tiefen Ausschnitt. Aber die standen ihr nicht, wie sie bereits vermutet hatte.
Daß das schlichte taubenblaue Leinenkleid heruntergesetzt war,
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