Gezeiten der Liebe
habe – deshalb kann ich offen zu dir darüber sprechen.«
Ethan preßte die Finger auf die Augen und ignorierte die Mückenschwärme und die feuchte Hitze. »Es ist anders, wenn man Gefühle empfindet, wenn der andere nicht bloß ein Gesicht oder ein willfähriger Körper ist, den man gerade zur Hand hat. So etwas habe ich auch erlebt. Den meisten Menschen geht es ab und zu so. Es ist anders, wenn es um die eine Person geht, die dir wichtig ist, die alles verändert. Wenn nicht nur der bloße Hunger dich treibt. Wenn du mehr geben willst als du nimmst. Ich habe noch nie bei einer anderen empfunden, was ich mit Grace empfunden habe.«
Achselzuckend wandte Seth sich ab, aber Ethan konnte sein unglückliches Gesicht sehen. »Ich weiß, daß du sie gern hast – echte, starke Gefühle, die dir viel bedeuten. Vielleicht hast du dir insgeheim gewünscht, daß sie vollkommen ist, nicht die Bedürfnisse hat, die andere Frauen
haben. Auf der anderen Seite wolltest du sie beschützen, dafür sorgen, daß niemand sie verletzt. Deshalb sage ich dir jetzt, was ich ihr vorhin gesagt habe: Ich liebe sie. Und ich habe nie eine andere geliebt.«
Seth starrte in die Marsch hinaus. Ihm tat alles weh, aber das Allerschlimmste war die Scham. »Liebt sie dich auch?«
»Ja, das tut sie. Warum, kann ich mir im Augenblick auch nicht erklären.«
Seth dachte sich, daß er den Grund kannte. Ethan war stark, und er zog keine große Show ab. Er tat, was zu tun war. Was richtig war. »Ich wollte auf sie aufpassen, wenn ich größer bin. Wahrscheinlich findest du das ziemlich albern.«
»Nein.« Er hatte große Lust, den Jungen an sich zu ziehen, wußte jedoch, daß dies der falsche Zeitpunkt war. »Nein, ich finde es großartig. Ich bin deswegen stolz auf dich.«
Seth’ Blick glitt kurz zu seinem Gesicht, bevor er sich wieder abwandte. »Ich liebe sie auch, weißt du. Irgendwie. Nicht, daß ich sie nackt sehen will oder so was«, fügte er hinzu. »Nur ...«
»Ich hab’ schon verstanden.« Ethan mußte sich schwer beherrschen, um nicht zu lachen. Seine Erleichterung war köstlicher als ein eiskaltes Bier an einem heißen Sommertag. »So, als wäre sie eine Schwester, für die du nur das Beste willst.«
»Ja.« Seth seufzte. »Ja, so könnte man es sagen.«
Nachdenklich sog Ethan die Luft durch die Zähne ein. »Es muß hart sein, wenn man ins Haus kommt – und plötzlich sieht man seine Schwester mit einem Kerl zusammen.«
»Ich habe ihr weh getan. Ich wollte ihr weh tun.«
»Ja, stimmt. Du wirst dich entschuldigen müssen, wenn du es wiedergutmachen willst.«
»Sie hält mich bestimmt für blöd. Sie wird nicht mit mir reden wollen.«
»Sie war drauf und dran dich selbst zu suchen. Ich würde sagen, jetzt gerade geht sie im Garten auf und ab und ist ganz krank vor Sorge.«
Seth holte tief Luft, und zu ihrer beider Unbehagen klang es wie ein Schluchzen. »Ich hab’ Cam so lange bekniet, bis er mich nach Hause gefahren hat, damit ich meinen Baseballhandschuh holen konnte. Und als ich ... als ich euch da drinnen sah, mußte ich daran denken, wie es früher war, als ich dazukam, wie sie es grade mit irgendeinem Kerl trieb.«
Wenn Sex zum Geschäft wird, dachte Ethan, ist alles häßlich und gemein. »Es ist schwer, solche Dinge zu vergessen oder den Gedanken zuzulassen, daß es auch anders sein kann.« Da er selbst noch daran zu kauen hatte, drückte er sich besonders vorsichtig aus. »Daß die körperliche Liebe, wenn man Gefühle hat, wenn es einem etwas bedeutet, wenn alles stimmt, rein ist.«
Seth schniefte und wischte sich die Augen. »Die Mükken«, murmelte er.
»Ja, die sind hier draußen eine echte Plage.«
»Du hättest mir eine runterhauen sollen, weil ich solchen Mist geredet habe.«
»Du hast recht«, sagte Ethan nach einer kurzen Pause. »Das nächste Mal haue ich dir eine runter. Aber jetzt laß uns nach Hause gehen.«
Er stand auf, klopfte seine Hose ab und streckte die Hand aus. Seth schaute zu ihm auf, sah Zuneigung, Geduld, Mitgefühl in seinen Augen – Eigenschaften an einem Mann, über die er früher gespottet hätte, weil er bei den Menschen, mit denen er in Berührung gekommen war, so wenig davon gefunden hatte.
Er reichte Ethan die Hand und ließ sie, ohne es zu merken, in der seinen liegen, als sie den Pfad entlanggingen. »Wie kommt es eigentlich, daß dir vorhin nicht ein einziges Mal die Hand ausgerutscht ist?«
Kleiner Junge, dachte Ethan, gegen dich haben in deinem kurzen Leben
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