Wenn die Zeit aber nun ein Loch hat
1. KAPITEL
aen. Wenn es wirklich halb vier war, dann muß-
C te das Caen sein. Von hier oben aus konnte es sich seines Wissens nach allerdings auch um Lisieux oder Pont L’Evêque handeln, möglicherweise sogar nur um einen ungewöhnlich großen Verschiebebahn-hof, denn Geographie gehörte nicht gerade zu seinen Stärken; dennoch schienen die Karte, die Funkbaken und das große, ausgestreckt daliegende Gebilde direkt unter ihm ausnahmsweise einmal genau überein-zustimmen. Ich verwette glatt meine gesamte Bar-schaft darauf, daß das Caen ist. Fast zu Hause! Bei dem Spritmangel und den ganzen anderen Unwäg-barkeiten war das auch nur gut so.
Selbst nach seinen Maßstäben war die letzte Nacht alles andere als geruhsam verlaufen. Mit Flakfeuer kam er leicht zurecht; er nahm es nicht persönlich, sondern eher wie Regen oder Turbulenzen, etwas, das aus heiterem Himmel kam, ein Naturereignis al-so, das keine angeborene Böswilligkeit besaß. Jagd-flugzeuge hingegen waren etwas anderes. Sie jagten ihm Angst ein, denn sie handelten mit Vorsatz. Da Guy nicht allzusehr auf seine eigenen Fähigkeiten 5
vertraute und sein Überleben unter diesen Umständen eher auf Zufalls- oder religiöse Faktoren zurück-führte, war er darüber hinaus fest davon überzeugt, daß sie ihn eines Tages erwischen würden.
Die heutige Nacht war das beste Beispiel dafür: Fast hätten sie ihn erwischt. Nun, dafür hatte Peter dran glauben müssen.
»Stimmt’s, Peter?« murmelte Guy. Peter antwortete nicht; der Navigator auf dem Sitz neben ihm war tot und folglich nicht mehr in der Lage, sich zu äu-
ßern obwohl er selbst in seinen Glanzzeiten kein sonderlich mitreißender Unterhalter gewesen war.
Guy war sich nicht sicher, wann Peter gestorben war oder was ihn überhaupt getötet hatte. Die Moskito war zu verschiedenen Gelegenheiten gleich mehrmals von einer beträchtlichen Anzahl Geschossen getroffen worden – dabei war es nicht sehr hilfreich gewesen, daß Peter, nicht unbedingt eine Kapazität auf dem Gebiet der Navigation, sie direkt über die Nachtjägerbasis bei Aachen hingelotst hatte –, genausogut konnte es natürlich auch Flakfeuer gewesen sein, oder Peter hatte einfach nur ein schwaches Herz gehabt. Nichtsdestotrotz war er eindeutig tot, was ein weiterer guter Grund war, umgehend nach Hause zu fliegen. Niemand will gern den Eindruck erwecken, intolerant oder dergleichen zu sein, aber Guy zog es nun einmal vor, nicht allzuviel Zeit in der Gesellschaft von Toten zu verbringen, denn soweit er wuß-
te, konnte deren Zustand ansteckend sein.
Guy war sich durchaus bewußt, daß hinter ihm ge-6
rade ein fast umwerfend schöner Sonnenaufgang stattfand und sich diese Tatsache eigentlich positiv auf seine Moral hätte auswirken müssen. Das war aber offenbar nicht der Fall. Ein warmes Bad, das würde es jetzt bringen, oder etwas Alkoholisches oder auch nur eine Zigarette, aber bestimmt kein Sonnenaufgang. Er versuchte, die Melodie zu pfeifen, die ihm gestern abend eingefallen war, doch seine Lippen waren zu durchfroren. Von wegen Mor-genstund’ hat Gold im Mund – so ein Quatsch!
»Wenn du willst, kannst du mich hier rauslassen.«
Guy zuckte zusammen. Sollte sich das hier als ei-ne Geistergeschichte herausstellen, dann war er absolut nicht in der Stimmung dazu. Er wartete kurz ab, dann sah er sich um. Zwar gab es trotz der ersten Sonnenstrahlen nicht allzuviel zu sehen, dennoch wirkte Peter auffallend tot; zum Beispiel der nach vom baumelnde Kopf. Vielleicht hatte er nur die Bordverständigungsanlage und den Funk miteinander verwechselt.
»Wie bitte?« erkundigte sich Guy vorsichtshalber.
»Hier war’s gut.«
»Aha«, murmelte Guy. Falls das hier alles wirklich passierte, dann hätte er nach seinem Dafürhalten jetzt absolut das Recht gehabt, umgehend abzusprin-gen und es darauf ankommen zu lassen, womöglich den Deutschen in die Hände zu fallen, und sich einen Teufel um die Kosten des Flugzeugs zu scheren.
Schließlich besaß die Regierung noch etliche von derselben Sorte, und dieses hier war völlig durchlö-
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chert. »Hast du etwas gesagt?« hakte er verunsichert nach.
»Ja, hier war’s gut. Danke fürs Mitnehmen.«
»Bist du einigermaßen auf dem Damm, Peter?«
erkundigte sich Guy ängstlich.
»Mir geht’s gut. Eigentlich heiße ich gar nicht Peter.«
Für eine ganze Weile herrschte Totenstille. Schon bald dürften sie Frankreich verlassen haben und über dem Ärmelkanal sein. Kein großes Vergnügen, wenn
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