Gezeiten der Liebe
hatte sie nicht überrascht. Am Ständer hatte es so unscheinbar, so alltäglich gewirkt. Aber Julie hatte es ihr dringend ans Herz gelegt, und Julie hatte ein Auge für solche Dinge.
Sie hatte wie immer recht gehabt, dachte Grace jetzt. Es wirkte schlicht, fast jungfräulich durch sein schmuckloses Oberteil und den klassisch-eleganten Schnitt. Aber an ihr sah es sehr hübsch aus, die kühle Farbe hob sich vorteilhaft von ihrer Haut ab, der Rock schwang luftig um ihre Beine.
Grace fuhr mit dem Finger über den eckigen Halsausschnitt und staunte, daß der BH, den zu kaufen sie Julie überredet hatte, ihr tatsächlich eine Spur von Dekolleté bescherte. Ein wahres Wunder, dachte Grace leise lachend.
Konzentriert beugte sie sich zum Spiegel. Mit dem geliehenen Make-up war sie genauso verfahren, wie von Julie angewiesen. Ihre Augen wirkten tatsächlich größer und lebendiger, dachte sie. Sie hatte sich alle Mühe gegeben, die Anzeichen von Erschöpfung zu tilgen und fand, daß es ihr recht gut gelungen war. Mochte ja sein, daß sie gestern nacht kaum ein Auge zugetan hatte, doch sie war nicht im mindesten müde.
Sie fühlte sich belebt, erfrischt.
Ihre Hand hing kurz über den Parfümproben, die sie sich gestern in der Kosmetikabteilung hatte geben lassen. Dann fiel ihr ein, daß Anna ihr geraten hatte, ihren gewohnten Duft für Ethan zu tragen, weil er ihm vertraut sein würde.
Sie griff zu ihrem alten Parfüm, schloß die Augen und tupfte sich ein wenig hinters Ohr. Die Augen geschlossen haltend, stellte sie sich vor, wie er sie mit den Lippen genau dort berühren würde.
Verträumt nahm sie das elfenbeinfarbene Abendtäschchen – noch eine Leihgabe – und überprüfte den Inhalt. Solch eine winzige Tasche hatte sie nicht mehr benutzt, seit ... nun ja, seit ihrer Schwangerschaft, dachte sie. Es war komisch, hineinzusehen und keines der vielen Dinge zu entdecken, die eine Mutter gewöhnlich mit sich führte. Nur typisch weibliche Dinge, überlegte sie. Die kleine Puderdose, die sie sich geleistet hatte, ein Lippenstift, den sie selten benutzte, weil sie es einfach vergaß, ihr Hausschlüssel, ein paar Geldscheine, sorgfältig zusammengefaltet, ein Taschentuch, das ausnahmsweise mal nicht dünn und ausgefranst war, weil sie ein klebriges Gesichtchen damit abgewischt hatte.
Alles in allem fühlte sie sich ungeheuer feminin. Hinzu kamen die Sandaletten mit den unpraktisch hohen Absätzen – oh, sie würde jeden Cent umdrehen müssen, um ihr Konto ausgleichen zu können, wenn die Kreditkartenrechnung kam. Rasch schlüpfte sie hinein, drehte sich vor dem Spiegel und beobachtete, wie der Rock bei jeder Bewegung ihren Körper umschmeichelte.
Als sie seinen Transporter vorfahren hörte, stürzte sie los, zwang sich aber sofort stehenzubleiben. Nein, sie würde nicht zur Tür stürmen wie ein kleines Hündchen. Sie würde an Ort und Stelle warten, bis er an die Tür klopfte. Und ihrem Herzen die Gelegenheit geben, wieder in seinem normalen Rhythmus zu schlagen.
Als er dann klopfte, pochte ihr das Blut noch in den Ohren. Sie ging zur Tür, lächelte ihm durch das Fliegengitter zu und öffnete.
Ihm fiel ein, daß sie schon einmal so zur Tür gekommen war, an dem Abend, als sie sich zum ersten Mal geliebt hatten. Sie hatte hinreißend ausgesehen, so einsam in dem ringsherum flackernden Kerzenlicht.
Aber heute abend sah sie ... ihm fehlten die Worte, um es zu beschreiben. Alles an ihr schien zu leuchten – Haut, Haar, Augen. Der Anblick machte ihn verlegen, demütig, ehrfürchtig. Er wollte sie küssen, um sich davon zu überzeugen, daß sie wirklich existierte, hatte jedoch beinahe Angst, sie zu berühren.
Er trat zurück, als sie die Fliegentür öffnete, dann nahm er die Hand, die sie ihm zögernd entgegenstreckte. »Du siehst – so verändert aus.«
Nein, poetisch war er nicht. Sie mußte lächeln. »Ich wollte dich heute abend überraschen.« Sie zog die Tür hinter sich zu und ließ sich von ihm zu seinem Transporter führen.
Plötzlich wünschte er, daß er sich die Corvette geliehen hätte.
»Der Transporter paßt nicht zu dem Kleid«, sagte er, als sie einstieg.
»Zu mir paßt er aber schon.« Sie raffte ihr Kleid zusammen, damit es nicht in der Tür hängenblieb. »Ich mag vielleicht anders aussehen, Ethan, aber ich bin immer noch dieselbe.
Sie lehnte sich zurück und bereitete sich auf den schönsten Abend ihres Lebens vor.
Die Sonne stand noch hell am Himmel, als sie in Princess
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