Gezeiten der Liebe
kaputtzuarbeiten.
Da Carol ähnliches schon mindestens ein dutzendmal oder mehr gesagt hatte und ihre Warnungen auch mindestens ein dutzendmal oder mehr in den Wind geschlagen worden waren, versuchte sie es mit einer neuen Taktik. »Du mußt mit der Nachtarbeit aufhören, Grace. Die tut dir nicht gut.«
»Mir geht’s prima.«
»Ehrliche, harte Arbeit ist nötig, um den Lebensunterhalt zu verdienen, aber man muß auch mal ein wenig Vergnügen und Spaß hinzugeben, sonst vertrocknet man noch völlig.«
Da sie es müde war, sich immer dieselbe alte Leier anzuhören, wenn auch die einzelnen Noten variieren mochten, drehte Grace sich um und wischte über ihren bereits makellosen Küchentresen. »Die Arbeit im Pub gefällt mir. Dort habe ich Gelegenheit, neue Leute kennenzulernen, mit ihnen zu reden.« Auch wenn sie nur fragte, ob sie noch eine weitere Runde bringen sollte. Und die Bezahlung ist nicht schlecht.
»Wenn du knapp bei Kasse bist ...«
»Ich komme bestens zurecht.« Grace biß die Zähne zusammen. Sie hätte sich eher foltern lassen als zuzugeben, daß ihre finanzielle Situation aufs äußerste gespannt war – und daß die Lösung der Autofrage beinhaltete, daß sie den einen Gläubiger in den nächsten Monaten vertrösten mußte, um den anderen zu bezahlen. »Das Trinkgeld kommt mir gerade recht, und ich bin schließlich eine gute Kellnerin.«
»Ich weiß, ich weiß. Aber du könntest auch drüben im Café arbeiten, in der Tagesschicht.«
Geduldig spülte Grace das Wischtuch aus und hängte es über den Teiler der Doppelspüle, um es trocknen zu lassen. »Mama, du weißt, daß das unmöglich ist. Daddy will nicht, daß ich für ihn arbeite.«
»Das hat er nie gesagt. Außerdem hilfst du doch auch beim Krabbenschälen aus, wenn wir Engpässe haben.«
»Eben, ich helfe aus«, präzisierte Grace, während sie sich umwandte. »und ich bin froh, wenn ich die Gelegenheit dazu habe. Aber wir wissen doch beide, daß ich im Café nicht arbeiten kann.«
Ihre Tochter war mindestens so stur wie zwei Maultiere, die einen Wagen in verschiedene Richtungen ziehen wollten, dachte Carol. Sie war nun mal die Tochter ihres Vaters. »Du weißt genau, daß du ihn milder stimmen könntest, wenn du nur wolltest.«
»Ich will ihn aber nicht milder stimmen. Er hat klar und deutlich zum Ausdruck gebracht, was er von mir hält. Laß es gut sein, Mama«, murmelte sie, als sie sah, daß ihre Mutter etwas einwenden wollte. »Ich will nicht mit dir streiten, und ich will dich nie wieder in die Verlegenheit bringen, daß du einen von uns gegen den anderen in Schutz nehmen mußt. Das wäre nicht richtig.«
Carol hob resigniert die Hände. Sie liebte sie beide, Ehemann wie Tochter. Aber verstehen konnte sie sie beim besten Willen nicht. »Wenn ihr erst mal dieses Gesicht macht, kann keiner mehr mit euch reden. Ich weiß auch nicht, warum ich es immer wieder versuche. Es hat ja doch keinen Zweck.«
Grace lächelte. »Ich kann’s dir auch nicht sagen.« Sie ging zu ihrer Mutter, beugte sich hinunter und gab ihr einen Kuß auf die Wange. Carol war fünfzehn Zentimeter kleiner als Grace mit ihren einssiebzig. »Danke, Mama.«
Carol gab nach wie stets und fuhr sich mit der Hand durch ihr kurzes, lockiges Haar. Früher einmal war es genauso naturblond gewesen wie das Haar ihrer Tochter und
ihrer Enkelin. Doch die Natur ließ einen ja bekanntlich mit den Jahren im Stich, deshalb half sie inzwischen heimlich mit Blondiercreme nach.
Ihre Wangen waren voll und rosig, ihre Haut erstaunlich glatt, obgleich sie gern in die Sonne ging. Aber sie hatte sich auch nie vernachlässigt. Es gab keinen Abend, an dem sie ins Bett kletterte, ohne zuvor sorgfältig Gesichtsöl aufzutragen.
Eine Frau zu sein, war in Carol Monroes Augen keine bloße Schicksalsfrage. Es war eine Verpflichtung. Sie schmeichelte sich mit dem Gedanken, daß sie es geschafft hatte, trotz ihres kurz bevorstehenden fünfundvierzigsten Geburtstags immer noch wie eine ›Porzellanpuppe‹ auszusehen – der Kosename, den ihr Mann vor langer Zeit für sie erfunden hatte.
Damals waren sie frisch verliebt gewesen, und er hatte sich noch die Mühe gemacht, hin und wieder etwas Poetisches anzubringen.
Derlei Dinge fielen ihm heutzutage nicht mehr ein.
Dennoch war er ein guter Mann, dachte sie. Ein treuer Ehemann und fairer Geschäftsmann, der vorbildlich für seine Familie sorgte. Seine Schwachstelle war sein weiches Herz, so daß man ihm nur allzuleicht weh tun konnte. Und
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