Gezeiten der Liebe
schmerzliche Erinnerung an. »Er wird wissen, daß wir für ihn da sind – ob mit oder gegen die Behörden –, daß wir hinter ihm stehen.«
»Der Anwalt muß erfahren, daß sie Kontakt zu uns aufgenommen hat.« Phillip nahm Ethan den Brief ab, faltete ihn zusammen und steckte ihn wieder in den Umschlag. »Und wir müssen uns überlegen, wie wir reagieren wollen. Mein erster Impuls war, nach Virginia Beach zu fahren, sie aus ihrem Schlupfwinkel hervorzuzerren und ihr auf unmißverständliche Weise klarzumachen, was sie zu erwarten hat, wenn sie sich Seth auch nur auf fünfzig Kilometer nähert.«
»Sie zu bedrohen, hilft doch nichts ...«, begann Anna.
»Aber es würde verdammt guttun.« Cam knirschte mit den Zähnen. »Das kann ich gern übernehmen.«
»Andererseits könnte es durchaus etwas bringen und später eventuell auch vor Gericht nützlich sein«, fuhr Phillip fort, »wenn unsere heißgeliebte Gloria ein offizielles Schreiben von Seth’ Betreuerin erhält. Zum derzeitigen Stand der Dinge, den verschiedenen Optionen und den daraus zu ziehenden Schlüssen. Es fällt doch in deine Kompetenz, Kontakt zur leiblichen Mutter aufzunehmen, wenn diese es sich anders überlegt und ihr Kind nicht mehr zur Adoption freigeben will, oder, Anna? Wenn das betreffende Kind einer deiner Fälle ist?«
Sie dachte darüber nach. Es lag haarscharf an der Grenze, und sie würde äußerst vorsichtig sein müssen, um nicht gegen die Bestimmungen zu verstoßen. »Ich darf ihr nicht drohen. Aber ... ich könnte sie vielleicht dazu bringen, noch mal in Ruhe über alles nachzudenken. Die große Frage ist, weihen wir Seth ein?«
»Er hat Angst vor ihr«, murmelte Cam. »Mist, der Kleine hat sich gerade ein bißchen erholt und wähnt sich in Sicherheit vor ihr. Wieso sollten wir ihm unbedingt auf die Nase binden, daß sie sich wieder in sein Leben hineindrängen will?«
»Weil er das Recht hat, es zu erfahren.« Ethan sprach leise. Seine Wut war verraucht, und er konnte endlich wieder
klar denken. »Er hat das Recht zu erfahren, was ihm bevorsteht, welchen Kampf er auszufechten hat. Wenn man weiß, was einem blüht, hat man eine größere Chance, damit fertigzuwerden. Und er muß es auch erfahren, weil der Brief an die Quinns adressiert ist«, fügte er hinzu. »Er ist einer von uns.«
»Ich würde das Schreiben lieber verbrennen«, murmelte Phillip. »Aber du hast natürlich recht.«
»Wir sagen es ihm alle zusammen«, stimmte Cam zu.
»Ich rede mit ihm.«
Cam und Phillip starrten Ethan an. »Ach ja?«
»Wenn er es von mir hört, ist es vielleicht leichter für ihn.« Er schaute zur Tür, als Seth hereinkam. »Mal sehen, ob ich richtig liege.«
»Mutter Crawford hat extra viel Karamelsoße draufgetan. Mann, sie hat richtig zugeschlagen. Draußen am Hafen tummeln sich Millionen von Touristen, und ...«
Sein aufgeregtes Geplapper brach ab. In Sekundenschnelle verwandelte sich Fröhlichkeit in Mißtrauen. Sein Herz begann wild zu pochen. Er erkannte Ärger, schlimmen Ärger auf Meilen Entfernung. So etwas hatte einen eigenen Geruch. »Was steht an?«
Anna nahm ihm die große Tüte ab und packte die Plastikbecher aus. »Warum setzt du dich nicht, Seth?«
»Ich will mich nicht setzen.« Wenn man stand, gewann man leichter Vorsprung, falls Ausreißen angesagt war.
»Heute war ein Brief in der Post.« Am besten war es, mit unangenehmen Neuigkeiten direkt und ohne Umschweife herauszurücken, dachte Ethan. »Von deiner Mutter.«
»Ist sie hier?« Die Angst war wieder da, so scharf wie ein Skalpell. Seth wich schnell einen Schritt zurück und wurde dann steif wie ein Brett, als Cam die Hand auf seine Schulter legte.
»Nein, sie ist nicht hier. Aber wir sind da. Vergiß das nicht.«
Seth erschauerte, dann fing er sich wieder. »Was wollte sie? Warum schickt sie plötzlich Briefe? Ich will ihn nicht sehen.«
»Du brauchst ihn auch nicht zu lesen«, beruhigte Anna ihn. »Warum läßt du Ethan nicht erst mal aussprechen? Anschließend reden wir darüber, was zu tun ist.«
»Sie weiß, daß Ray gestorben ist, begann Ethan. »Ich denke mir, daß sie es von Anfang an gewußt hat, aber sie hat sich Zeit gelassen, darauf zu reagieren.«
»Er hat ihr Geld gegeben.« Seth schluckte gegen die Angst an. Ein Quinn hatte keine Angst, sagte er sich. Die Quinns fürchteten sich vor gar nichts. »Sie ist verduftet. Ihr ist es doch egal, daß er tot ist.«
»Das glaube ich auch, aber sie hofft darauf, noch mehr Geld einzustreichen.
Weitere Kostenlose Bücher