Gezeiten der Liebe
lachen. »Laß mal sehen.« Sorgfältig zog Grace die Plastikfolie über die Schüssel, bevor sie sich umdrehte und ihr kleines Mädchen betrachtete. »Wie hübsch du bist.«
»Ich hab’ eine Schleife.« Mit einer ausgesprochen femininen Geste hob Aubrey die Hand und tätschelte das Band, das Grace ihr in die Locken geflochten hatte.
»Eine rosa Schleife.«
»Rosa.« Aubrey strahlte ihre Mutter an. »Hübsche Mama.«
»Danke, Baby.« Hoffentlich fand Ethan das auch. Wie würde er sie wohl ansehen? fragte sie sich. Wie sollten sie sich verhalten? Es würden so viele Leute dasein, und niemand – nun ja, niemand außer den Quinns – wußte, daß sie ein Liebespaar waren.
Ein Liebespaar, dachte sie mit einem langen, verträumten Seufzer. Es war wie im Märchen. Sie blinzelte, als sich kleine Ärmchen um ihre Beine schlangen und drückten.
»Mama! Fertig?«
Lachend hob Grace sie hoch und küßte sie. »Na schön. Gehen wir.«
Nicht einmal ein General in den letzten Stunden vor einer Entscheidungsschlacht befehligte seine Truppen mit mehr Autorität und Entschlossenheit als Anna Spinelli Quinn.
»Seth, stell die Klappstühle da drüben in den Schatten der Bäume. Ist Phillip noch nicht mit dem Eis da? Er ist schon seit mindestens zwanzig Minuten unterwegs. Cam! Du und Ethan ihr stellt die Picknicktische viel zu nah zusammen.«
»Vorhin standen sie noch zu weit auseinander«, sagte Cam leise. Aber er ging rückwärts und zog den Tisch zwanzig Zentimeter weiter.
»Gut so. Prima.« Mit hellrot, weiß und blau gestreiften Tischtüchern bewaffnet, eilte Anna durch den Garten. »Jetzt kannst du die Tische mit den Sonnenschirmen umstellen, näher zum Wasser hin vielleicht.«
Cam kniff die Augen zusammen. »Du sagtest doch, sie sollten drüben bei den Bäumen stehen.«
»Ich hab’s mir anders überlegt.« Sie schaute sich im Garten um, während sie die Tischtücher auflegte.
Cam öffnete den Mund, um zu protestieren, fing jedoch noch rechtzeitig Ethans warnendes Kopfschütteln auf. Sein Bruder hatte recht, entschied er. Streit würde nichts bringen.
Anna war schon den ganzen Morgen völlig außer sich, und als er in einem unbewachten Moment mit Ethan darüber sprach, merkte man ihm an, wie gereizt und verblüfft er deswegen war.
»Normalerweise ist sie eine so praktische, besonnene Frau«, fügte Cam hinzu. »Ich weiß nicht, was plötzlich in sie gefahren ist. Es geht doch bloß um ein blödes Picknick.
»Ich schätze, Frauen regen sich öfter mal über solche Dinge auf«, gab Ethan zu bedenken. Ihm fiel ein, wie
Grace ihm verboten hatte, sich in seinem eigenen Bad zu duschen, nur weil Cam und Anna nach Hause kamen. Wer konnte schon wissen, was im Kopf einer Frau vor sich ging?
»Vor unserem Hochzeitsempfang hat sie sich nicht so angestellt.«
»Da war sie mit ihren Gedanken wohl ganz woanders.«
»Ja.« Cam ächzte, als er – zum wievielten Mal? – einen der runden Tische mit Sonnenschirm hochnahm und ihn zum sonnengesprenkelten Ufer schleppte. »Phil ist klüger als wir. Er hat sich schleunigst aus dem Staub gemacht.«
»Das konnte er schon immer gut«, bestätigte Ethan.
Ihm machte es nichts aus, Tische zu verstellen, Stühle herumzuschleppen oder eine der anderen zig Aufgaben zu erfüllen – ob groß oder klein –, die Anna sich einfallen ließ. Es half ihm, sich von wichtigeren Dingen abzulenken.
Wenn er zu lange nachdachte, stand ihm das Bild von Gloria DeLauter vor Augen. Da er sie nie gesehen hatte, zeigte dieses erfundene Bild eine große, üppige Frau mit wirrem strohblondem Haar, harten, kohlschwarz umschminkten Augen und schlaffem Mund, weil sie zu oft zur Flasche gegriffen und mit der Nadel herumgespielt hatte.
Die Augen waren blau, so wie seine eigenen. Der Mund, trotz des dicken Lippenstifts, so geformt wie der seine. Ihm war klar, daß er nicht das Gesicht von Seth’ Mutter vor sich sah. Es war seine eigene Mutter.
Das Bild war nicht verschwommen und trüb wie in den letzten Jahren. Es war scharf und klar, als hätte er sie erst gestern gesehen.
Und es besaß immer noch die Macht, sein Blut gefrieren und eine animalische Furcht in seinem Bauch aufsteigen zu lassen, die viel mit Scham zu tun hatte.
Dann hatte er immer noch das Bedürfnis, mit geschwollenen, blutigen Fäusten um sich zu schlagen.
Langsam drehte er sich um, als er den Freudenschrei hörte. Dann sah er Aubrey quer über den Rasen laufen, mit Augen so hell wie Sonnenstrahlen. Und er sah Grace, die an den
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