Gezeitengrab (German Edition)
rennt, so schnell man kann, und doch nicht vom Fleck kommt, weil sich der Boden in Kaugummi verwandelt und die Füße in Bleigewichte. Er müsste doch längst bei den Felsen sein. Die Wellen brechen sich bereits am äußersten Ende. Um in die benachbarte Bucht zu kommen, wird Nelson klettern müssen. Herrgott, wenn er bloß mehr trainiert hätte. Wieso hat er nur die Mitgliedschaft im Fitnessstudio nicht verlängert?
Sein Handy klingelt. Er hält es ans Ohr, ohne stehen zu bleiben.
Es ist Judy.
«Wir sind jetzt in Rockham, Boss. Wo stecken Sie?»
«Unten am Strand.»
«In der Nebenbucht brennt ein Schiff. Ein richtiges Inferno, überall schwarzer Rauch.»
«Ist Ruth da irgendwo?»
«Nein, aber wir kommen auch nicht nah genug heran, um alles zu überblicken.»
«Rufen Sie die Küstenwache. Und die Feuerwehr.»
«Schon passiert. Die Küstenwache meint, die Flut bricht ziemlich schnell herein. Sie sollten besser wieder raufkommen.»
«Nein. Ich muss an den anderen Strand.»
Damit beendet er das Gespräch. Jetzt ist er endlich bei den Felsen angekommen und sieht, dass sie eigentlich die Überreste des von Menschenhand errichteten Deiches sind, riesige graue Blöcke aus Schlackenstein, von Tang bedeckt. Vergeblich versucht Nelson, daran Halt zu finden, fällt aber immer wieder auf den Kiesstrand zurück. Die Wellen schlagen an das Ende der Mauer. Er sollte lieber umkehren und auf die Küstenwache warten. Weder Michelle noch Ruth ist damit gedient, wenn er hier sein Leben aufs Spiel setzt. Trotzdem stürzt er noch einmal auf die Wand los, krallt die Finger hinein und zieht sich mit purer Willenskraft daran hoch. Und plötzlich ist er da, oben auf der Mauer. Die Nebenbucht ist ganz erfüllt von schwarzem Rauch. Nelson sieht überhaupt nichts. Er hält kurz inne, um wieder zu Atem zu kommen, da trifft ihn plötzlich etwas im Rücken, das sich anfühlt wie eine Flutwelle. Er geht schwer zu Boden und schlägt mit dem Kopf auf die Steine.
Die Wucht der Explosion schleudert Ruth durch die Luft. Sie landet auf dem Strand, flach auf dem Rücken, und kann sich nicht mehr rühren. Vor ihr erhebt sich eine geschlossene Feuerwand. Wo ist Craig? Kann er das überlebt haben? Der Rauch beißt ihr in den Augen, sie kriegt kaum noch Luft, aber sie weiß, dass sie irgendwie von diesem Strand wegkommen muss. Wenn das Feuer sie nicht erwischt, dann die Flut. Schwankend rappelt sie sich hoch und steuert auf die Felsen zu. Vielleicht kann sie ja in die Bucht nebenan klettern. Sie stolpert, fällt, schlägt sich das Knie am Stein auf und steht dann plötzlich, wie durch Zufall, mitten im Meer. Dankbar für die willkommene Abkühlung kniet sie sich hin und spritzt sich Wasser ins glühende Gesicht. Das Salzwasser sticht, doch selbst das macht ihr nichts aus: Es zeigt ihr, dass sie noch am Leben ist.
Als sie sich umdreht, sieht sie nur noch Schwärze, selbst die Flammen sind verschwunden. Der Gestank nimmt ihr den Atem. Das muss das brennende Öl sein. Die längst vergessene Bombe des alten Hastings ist mit Karacho geplatzt. Und wo steckt Craig, der sich der Aufgabe verschrieben hat, Hastings’ guten Namen zu bewahren? Falls es irgendwo Gerechtigkeit gibt, ist er gleich mit hochgegangen, als das Fass explodiert ist. Dem Hinterhalt seiner heißgeliebten Home Guard zum Opfer gefallen. Doch Ruth glaubt nicht an diese Form von Gerechtigkeit. Jetzt bis zur Taille im Wasser, kämpft sie sich weiter voran. Wenn sie bloß den Wellenbrecher erreicht, dann kann sie hinaufklettern, um Hilfe rufen. Irgendjemand muss die Flammen doch bemerkt haben? Vielleicht rettet das Feuerschiff ihr ja das Leben?
Sie fühlt sich benommen und desorientiert und merkt erst, dass sie die Mauer erreicht hat, als sie im wahrsten Sinn des Wortes unter Wasser gegen den ersten Stein läuft. Wieder fällt sie hin, schmeckt Salzwasser im Mund, doch irgendwie gelingt es ihr hinaufzuklettern. Eine Welle reißt sie fast um, doch sie klammert sich fest, robbt auf allen vieren über den Tang, die Muscheln und die Krebse. Sie hat es fast geschafft. Nur noch ein kleines Stück.
«Hallo, Ruth», sagt eine vertraute Stimme.
[zur Inhaltsübersicht]
31
Craig. Aus irgendeinem Grund ist er über ihr, auf dem höchsten Teil des Wellenbrechers. Sein Gesicht ist schwarz vom Rauch, doch ansonsten wirkt er unverletzt. So viel zur ausgleichenden Gerechtigkeit. Die Pistole scheint er eingebüßt zu haben, aber er ist trotzdem noch stärker und schwerer als Ruth. Und er hat bereits
Weitere Kostenlose Bücher