Gezeitengrab (German Edition)
drei Menschen umgebracht.
Ruth bleibt auf der nassen, glitschigen Betonmauer liegen. Wellen schwappen eisig und erbarmungslos über sie hinweg. Sie sieht Craig näher kommen, die festen Archäologenschuhe, die inzwischen patschnasse Armeehose, die zu Fäusten geballten Hände. Sie kann nichts tun, nicht einmal aufrichten kann sie sich, weil sie weiß, dass die nächste Welle sie gleich wieder umreißen würde. Ihr bleibt nur eine Chance. Sobald Craig in Reichweite ist, packt sie ihn am Knöchel und zieht.
«Miststück!»
Fast fällt er auf sie. Sein Gesicht ist nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt, und sie krallt sich hinein, versucht verzweifelt, ihn vom Wellenbrecher zu stoßen. Aber er wehrt sich, löst ihre Finger und schubst stattdessen sie, wirft sich mit seinem ganzen Körpergewicht gegen sie. Ruth spürt, wie sie abgleitet. Dann ist er über ihr. Sie sieht das teuflisch weiße Grinsen in seinem rußschwarzen Gesicht.
«Mach’s gut, Ruth. Ich werde Ted und die anderen von dir grüßen. So ein trauriger Tod. Ich werde ihnen ausführlich beschreiben, wie verzweifelt ich versucht habe, dich zu retten.»
Er tritt ihr mit aller Kraft auf die Hand, und sie lässt los, fällt rücklings in das tosende Meer. Jetzt muss es vorbei sein. Der lange Fall ins Nichts, das Wasser, das über ihrem Kopf zusammenschlägt, ihr Leben, das sich noch einmal vor ihren Augen abspult: Kate, Nelson, ihre Eltern, Erik, Peter, alles. Noch während sie fällt, denkt sie: Wer kümmert sich jetzt um Kate? Wenn es bloß Nelson ist und nicht ihre Eltern. Doch als sie an Kate denkt, verspürt sie plötzlich eine fast übermenschliche Kraft und fängt an zu strampeln, gegen die Strömung anzukämpfen. Hustend und spuckend bringt sie den Kopf wieder über Wasser. Sie sieht Craig, ein schwarzer Umriss auf der Mauer, dann schlägt eine weitere Welle über ihr zusammen. Wieder kämpft sie, langt verzweifelt nach oben, und diesmal bekommt sie wie durch ein Wunder etwas zu fassen, einen Metallring, der wahrscheinlich dazu dient, ein Boot zu vertäuen. Das rostige Eisen schneidet ihr in die Handfläche, doch sie klammert sich fest daran, als die Wellen sie gegen die Felsen schleudern. Craig kann sie nicht sehen. Die Luft ist schwarz von Rauch, und er muss glauben, sie wäre längst untergegangen.
Sie hat keine Ahnung, wie lange sie dort hängt. Immer und immer wieder treibt die Strömung sie weg und wirft sie wieder gegen den Wellenbrecher. Ihr ist eiskalt, sie wird fast wahnsinnig davon. Wahrscheinlich stirbt sie an Unterkühlung, bevor Craig sie erwischt. Vielleicht sollte sie einfach loslassen, ihr Glück im Kampf gegen die Wellen versuchen. Da hört sie jemanden ihren Namen rufen. Die Stimme scheint von weit her zu kommen, doch gleichzeitig ist sie genau über ihr.
«Ruth! Nimm meine Hand.»
Es ist Tatjana. Ruth hat keine Ahnung, wie sie hierherkommt. Das vermischt sich alles mit einem anderen Tag, einem anderen Feuer, Flammen über einer brennenden Stadt. Tatjana mit einer Pistole in der Hand. Ihre Worte: «Ich muss es tun, Ruth. Halt mich nicht auf.»
Auch jetzt scheint Tatjana von übermenschlicher Kraft beseelt. Sie zieht die tropfnasse Ruth aus dem Wasser, während Ruth versucht, am glatten Stein Halt zu finden. Dann liegt sie plötzlich bäuchlings auf der Mauer, doch Tatjana zerrt weiter an ihr. «Los, los, hier können wir nicht bleiben.» Warum denn nicht? Ruth will sich einfach nur hinlegen und schlafen, selbst wenn die ganze Nordsee über sie hinwegschwappt.
«Komm schon, Ruth. Wir müssen uns beeilen.»
Nelson treibt dahin. Die dunklen Wellen sind eigentlich ganz beruhigend. Sie sprechen mit dem irischen Akzent seiner Mutter zu ihm: «Es ist alles gut, Junge. Du bist in Sicherheit.» Doch dann hört er eine weitere Stimme, die merkwürdigerweise Cathbad gehört.
«Gib jetzt nicht auf, Nelson. Kämpf dagegen an.»
Nelson schlägt die Augen auf, und der Himmel über ihm zerspringt in tausend Stücke.
Noch eine Stimme.
«Aufwachen, Boss. Wir müssen arbeiten.»
Großer Gott, jetzt halluziniert er auch noch Clough! Er schließt die Augen wieder und überlässt sich ganz der Flut.
Tatjana hat eine rote Jacke an, und Ruth läuft ihr blindlings hinterher, den Wellenbrecher entlang, bis sie am Fuß der Felswand sind. Dann springt Tatjana hinüber in die benachbarte Bucht.
«Spring, Ruth.»
Ruth springt. Das Wasser reicht ihr nur bis zu den Knien, doch die Strömung ist so stark, dass sie nur schwer vorankommt. Sie
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