Gezeitengrab (German Edition)
Baby sprach, war es, als klappte sie einfach nur den Mund auf und zu wie ein Fisch im Aquarium.
Auch Cathbad gefiel der Name: «Nach Hekate, der Göttin der Zauberkunst. Eine große Magierin.» Und Ruths Freund Max, Experte für römische Geschichte, schlug in dieselbe Kerbe: «Hekate wird ja oft auch als Hebamme bezeichnet.» Das war Ruth durchaus bekannt, doch Kate hieß weder nach Hekate noch nach Tante Catherine und erst recht nicht nach der heiligen Katharina von Siena, wie ein weiterer Bekannter, seines Zeichens katholischer Priester, vermutete. Sie hieß einfach Kate, weil Ruth den Namen mochte. Er war schön, aber nicht zu ausgefallen, und kraftvoll, ohne hart zu wirken. Man konnte sich problemlos einen Doktortitel davor oder die Abkürzung «MP» dahinter vorstellen, gleichzeitig war er aber niedlich genug für ein Baby.
Für den Moment allerdings brüllt die künftige Frau Doktor Kate Galloway auf dem Rücksitz unbeirrt weiter, während Ruth den Wagen in Richtung Heimat steuert. Sie wohnt außerhalb von King’s Lynn, an der Küste Nord-Norfolks, allerdings nicht in einer der zahllosen pittoresken kleinen Ortschaften, sondern in einem abgelegenen Haus mit Blick auf die einsame, aber wunderschöne Landschaft, die als Salzmoor bekannt ist. «Jetzt, wo das Baby da ist, bleibst du aber nicht mehr in diesem schrecklichen Haus?» Das war die erste Frage ihrer Mutter. «Warum denn nicht?», hat Ruth zurückgefragt.
Sie liebt das Haus, liebt den Blick, der sich hinter dem Salzmoor im Nichts verliert, sie liebt die Weite des Himmels und das Rauschen des Meeres und die Vogelschwärme, die den abendlichen Himmel verdunkeln, die Flügelspitzen ins Rosarot der untergehenden Sonne getaucht. Aber der Winter war hart, das muss sie zugeben. Die Weihnachtstage hat sie bei ihren Eltern in London verbracht und war heilfroh, als sie wieder fahren konnte, weil sie es satthatte, vor jeder Mahlzeit zu beten und mit ihrer Schwägerin über Kalorienangaben zu reden. Doch als sie und Kate wieder daheim waren, allein in dem kleinen Haus, und der Wind vom Meer heranbrauste, verspürte Ruth eine leichte, dadurch aber nicht weniger reale Angst. Sie waren ganz auf sich allein gestellt – sie saßen tatsächlich gemeinsam im selben Boot. Ruths Haus steht zwischen zwei weiteren, von denen eines unbewohnt ist und das andere Wochenendurlaubern gehört, die immer seltener kommen, seit die Kinder erwachsen sind. Die nächsten Nachbarn wohnen im Dorf, gut anderthalb Kilometer die dunkle, ungeschützte Straße entlang, die sich ein ganzes Stück über dem flachen Marschland erhebt, und auch im Dorf stehen die meisten Häuser den Winter über leer.
Den ganzen Januar über haben Ruth und Kate das Haus so gut wie nie verlassen. Ruth hielt sich mit dem Kultursender Radio 4 über Wasser – die tägliche Doppelfolge von The Archers war für sie ein Quell der Freude – und sah Kate zu. Sie hatte ja nicht ahnen können, dass so ein Baby sich von Tag zu Tag verändert. Eines Tages konnte Kate plötzlich lächeln – meist lächelte sie Flint an, Ruths Kater –, am nächsten glucksen, und bei einer freudigen Gelegenheit schlief sie sogar die ganze Nacht durch. Wenig später fing sie an, ihre Mutter mit Ganzkörperzappeln und fröhlichem Strampeln zu begrüßen. Wahrscheinlich hatte das Ruth letztlich vor dem Durchdrehen bewahrt.
Als im Februar Cathbad zu Besuch kam, um mit einer Imbolc-Feier den Frühlingsanfang zu begehen – etwas verfrüht vielleicht, nachdem draußen noch Schnee lag –, überraschte er Ruth mit der Frage, wann sie eigentlich wieder arbeiten wolle. Ihr Einsiedlerdasein war zu ihrer einzigen Realität geworden, ihre Welt auf vier Wände und einen Computerbildschirm geschrumpft. Doch als Cathbad die Arbeit erwähnte, merkte sie plötzlich, wie sehr sie das alles vermisste. Sie vermisste ihre Studenten und ihre Kollegen, doch vor allem vermisste sie die archäologische Tätigkeit, die angestrengte Suche nach Fundstücken, die jahrhundertealten, von Knochen und Bodenproben aufgegebenen Rätsel, die Freude am Entdecken. Und so hatte Ruth Kate bei ihrer Freundin Shona geparkt, die zu diesem Anlass offenbar einen ganzen Spielzeugladen leer gekauft hatte, und ihren Chef Phil aufgesucht. Anschließend war sie nach Hause gefahren, hatte im Internet etwas arbeitstaugliche Kleidung bestellt – ihre Kleider aus der Zeit vor der Schwangerschaft waren aus unerfindlichen Gründen alle zu eng – und sich darangemacht, Kate abzustillen und
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