Gezeitengrab (German Edition)
Kinder haben Sie?», fragte Lisa und richtete ihren eindringlichen, kurzsichtigen Blick dabei auf Nelson.
«Drei», antwortete Nelson knapp. «Drei Töchter.»
«Harry!» Michelle beugte sich vor, und ihre Goldketten klingelten aneinander. «Wir haben zwei Töchter, Lisa. Demnächst vergisst er noch, wie er heißt.»
«Entschuldigung.» Nelson wandte sich wieder seinem Krabbencocktail zu. «Zwei Töchter, neunzehn und siebzehn.»
An diesem Abend war das Gespräch nur noch ein weiteres Mal zum Erliegen gekommen.
«Und was machen Sie beruflich, Harry?», fragte Ken.
«Ich bin Polizist», gab Nelson zur Antwort und machte sich energisch daran, sein Steak zu zersäbeln.
«Ein Glück», meinte er zu Michelle, als sie später wieder auf dem Zimmer waren. «Jetzt müssen wir wenigstens nie mehr mit diesen fürchterlichen Leuten reden.»
«Wie meinst du das?» Michelle hatte sich in ein Handtuch gehüllt und steuerte die Dusche an.
Nelson zögerte mit der Antwort; er wollte sie nicht zu sehr verärgern, weil er auf Sex in der ersten Urlaubsnacht setzte. «Na ja, wir haben doch nicht gerade viel mit ihnen gemeinsam, oder?»
«Ich mochte sie.» Michelle drehte das Wasser auf. «Und ich habe uns für morgen mit ihnen zum Minigolf verabredet.»
Damit war es entschieden. Sie spielten Minigolf mit Lisa und Ken, sie sahen sich zusammen die Sehenswürdigkeiten an, abends aßen sie an benachbarten Tischen, und einmal, am grässlichsten Abend von allen, waren sie in einer Karaoke-Bar. Die Hölle, sinniert Nelson jetzt, während er den Vor- und Nachteilen von Gold im Vergleich zu Rot mit einem Schuss Honig lauscht, kann keine schlimmeren Strafen bereithalten, als mit einem Programmierer aus Farnborough «Wonderwall» im Duett singen zu müssen.
«Wir müssen unbedingt wieder zusammen Urlaub machen.» Ken beugt sich zu Nelson herüber. «Lisa und ich wollten nächstes Jahr vielleicht nach Florida.»
«Wir waren dort mal in Disneyland», sagt Michelle. «Als die Mädchen noch klein waren. Das war toll, stimmt’s, Harry?»
«Erste Sahne.»
«Na, dann wär’s doch an der Zeit, noch einmal ohne Kinder hinzufahren», meint Ken. «Wieso sollen immer die den ganzen Spaß haben?»
Nelson mustert ihn mit steinerner Miene. «Harry ist ein echter Workaholic», erklärt Michelle. «Er kann sich ganz schlecht entspannen.»
«Polizist sein ist bestimmt auch sehr anstrengend», sagt Lisa. Mit leichten Variationen sagt sie das jedes Mal, wenn von Nelsons Arbeit die Rede ist.
«Kann man wohl sagen», brummt Nelson.
«Harry hat ein hartes Jahr hinter sich.» Michelle gibt ihrer Stimme einen mitleidigen Unterton.
Auch das kann man wohl sagen, denkt Nelson, als sie das Restaurant am Pool endlich verlassen, um in der Hotelhalle noch einen Kaffee zu trinken. Das Jahr hat ihm zwei Kindsmörder und mindestens drei Spinner beschert und dazu noch eine äußerst merkwürdige Beziehung, wie er sie nie zuvor erlebt hat. Beim Gedanken an diese Beziehung springt er unvermittelt auf. «Ich muss mir mal die Beine vertreten», sagt er. «Vielleicht rufe ich auch kurz bei Rebecca an.» Der Handyempfang ist im Freien sehr viel besser.
Draußen umrundet Nelson zweimal den Pool und denkt darüber nach, welche Verbrechen er Ken wohl anlasten könnte. Dann zieht er sich in die Dunkelheit der sogenannten italienischen Terrasse zurück, einem etwas trostlosen Ort, der mit leeren Amphoren und pittoresken Säulenfragmenten vollgestellt ist.
Er öffnet seine Kontakte und klickt sich durch die Namen mit R.
«Hallo», sagt er dann. «Wie geht’s dir?»
Streng genommen geht es Doktor Ruth Galloway gerade nicht besonders gut. Phil, ihr Vorgesetzter an der University of North Norfolk (UNN), hat darauf bestanden, um fünf Uhr nachmittags noch eine Planungssitzung abzuhalten. Mit dem Ergebnis, dass Ruth nun zum dritten Mal in dieser Woche zu spät bei der Tagesmutter ankommt. Als sie mit quietschenden Reifen vor dem Reihenhaus in King’s Lynn hält, kann sie sich des Gedankens nicht erwehren, dass ihr Name längst auf einer ominösen Schwarzen Liste von Rabenmüttern stehen muss. Die Tagesmutter, eine gemütliche, etwas ältere Frau namens Sandra, für die sich Ruth nach vielen ermüdenden Gesprächen und Sichtungen von Unterlagen entschieden hat, zeigt Verständnis: «Das macht doch nichts, Kindchen. Ich weiß ja selbst, wie das auf der Arbeit ist.» Trotzdem hat Ruth Schuldgefühle. Irgendwie weiß sie nie genau, wie sie mit Sandra umgehen soll. Sie ist
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