Winter der Zärtlichkeit
1. KAPITEL
Heute
„ Bleib im Auto“, befahl Sierra McKettrick ihrem siebenjährigen Sohn Liam.
Mit großen Augen fixierte er sie durch seine Brille. „Ich möchte auch die Gräber sehen.“ Entschlossen legte er eine Hand an den Türgriff.
„Ein andermal“, antwortete sie mit fester Stimme. Es war zwar übertrieben, zu befürchten, dass der Besuch eines Friedhofs eine Asthma-Attacke auslösen konnte, aber was Liams Gesundheit betraf, wollte sie kein Risiko eingehen. Sie setzte sich mit einem langen strengen Blick durch, allerdings nur mit Mühe und Not.
„Das ist nicht fair“, seufzte Liam, er klang resigniert. Normalerweise gab er nicht so schnell auf, doch nach der langen Fahrt von Florida nach North Arizona war er müde.
„Willkommen im wahren Leben“, erwiderte Sierra. Sie zog die Handbremse an, ließ den Motor laufen und stellte die Heizung auf die höchste Stufe. Dann kletterte sie aus ihrem alten Kombi.
Bis zu den Knöcheln im Schnee versunken, stand sie da und ließ die Umgebung auf sich wirken. Normale Menschen liegen nach ihrem Tod auf öffentlichen Friedhöfen, dachte sie verdrossen.
Die McKettricks aber hatten ihre eigenen Regeln, ob lebendig oder tot. Ihnen genügte ein normales Grab nicht. Oh nein. Sie mussten einen ganzen Ort nur für sich haben. Einen mit Ausblick.
Und was für einen Ausblick!
Sierra stopfte die Hände in die Taschen ihres Stoffmantels, der fast so schäbig war wie ihr Auto. Dann drehte sie sich in alle Richtungen, um einen prüfenden Blick auf die Triple M Ranch zu werfen, die sich weit über den Horizont hinaus erstreckte. Rote Tafelberge und Spitzkuppen von feinem Schnee überzogen, Wälder aus majestätischen Weißeichen entlang dem breiten und glitzernden Fluss. Ausgedehnte Weideflächen und sogar gelegentlich ein Kaktus, ein Fremder im Hochland, ein verirrter Reisender, der dort nicht hingehörte.
Genauso wenig wie sie.
Plötzlich spürte sie eine enorme Abneigung in sich aufsteigen, erkannte aber, dass es nicht ihre eigene, sondern die ihres verstorbenen Vaters Hank Breslin war.
Was die McKettricks betraf, hatte Sierra keine eigene Meinung, weil sie diese Leute überhaupt nicht kannte.
Sie hatte den Namen nur aus einem einzigen Grund angenommen - weil das Teil der Vereinbarung war. Liam brauchte ärztliche Versorgung, und sie konnte sie nicht bezahlen. Sierras leibliche Mutter Eve McKettrick hatte ein Treuhandkonto für ihren Enkel eingerichtet, an das jedoch Bedingungen geknüpft waren.
Bei den McKettricks, hörte sie ihren Vater sagen, als ob er neben ihr stünde, gibt es nichts ohne Bedingungen.
„Sei still“, rief Sierra laut aus. Sie war dankbar für Eves Hilfe, und wenn sie dafür den Namen McKettrick annehmen und ein Jahr auf der Triple M Ranch leben musste, sollte es so sein. Außerdem war es ja nicht so, dass sie irgendeine andere Alternative hatte.
Entschlossen näherte sie sich dem Friedhofseingang und marschierte unter dem verschnörkelten Torbogen mit der in graziösen Buchstaben gehaltenen Inschrift „McKettrick“ hindurch.
In der Mitte stand die lebensgroße Bronzestatue eines Mannes, der stolz auf einem Pferderücken saß, breitschultrig und imposant, mit einem wehenden Tuch um den Hals und einem Revolver um die Hüfte. Angus McKettrick, der Patriarch. Der Gründer von Triple M und der ganzen Familiendynastie. Sierra wusste wenig über ihn, aber als sie in sein strenges, entschlossenes und hartes Gesicht schaute, fühlte sie eine Art Seelenverwandtschaft.
Skrupelloser alter Mistkerl, hörte sie die Stimme von Hank Breslin. Von dir haben die McKettricks ihre Arroganz.
„Sei still“, wiederholte Sierra und schob ihre Hände noch tiefer in die Manteltaschen. So stand sie für einen langen Moment, lauschte dem ratternden Brummen ihres Automotors, dem einsamen Schrei eines nahen Vogels und dem Pochen des Bluts in ihren Ohren. Harzduft würzte die Luft.
Sierra drehte sich um und erblickte die marmornen Engel, die die Gräber von Angus McKettricks Ehefrauen markierten - Georgia, die Mutter von Rafe, Kade und Jeb, und Concepcion, die Mutter von Kate.
Suche nach Holt und Lorelei, hatte ihr Eve beim letzten Telefonat gesagt. Das ist unser Teil der Familie.
Sierra entdeckte noch andere Bronzestatuen, kleiner als die von Angus, aber nicht weniger eindrucksvoll. Es waren kunstvolle Objekte, Museumsstücke. Ohne ihr festes Zementfundament wären sie wahrscheinlich längst gestohlen worden. Andererseits hatte auch niemand an diesem
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