Ghostman: Thriller (German Edition)
blaues Haus am Wasser denken. Durch den Drogendunst konnte er den alten viktorianischen Bau fast riechen, und er fühlte die abblätternde Farbe an seinen Fingerspitzen. Sein erstes Haus. Er bewahrte das Bild in seinem Kopf wie eine Schmusedecke, die den Schmerz der Kugel in seiner Brust umhüllte. Er konnte es schaffen. Er musste. Musste.
Zwei Minuten nach sechs in der verdammten Frühe.
Zwei Minuten nach sechs in der verdammten Frühe und die Polizei war schon in voller Stärke unterwegs und durchkämmte die Straßen nach ihm. Zwei Minuten nach sechs in der verdammten Frühe und die Meldung von dem Raubüberfall war bereits bei der Highway-Polizei und beim FBI . Vier Tote. Mehr als eine Million Dollar erbeutet. Über hundert Patronenhülsen auf dem Asphalt. Eine Sache für die Titelseiten.
Es war zwei Minuten nach sechs in der verdammten Frühe, und die Polizei hatte ihre Detectives bereits geweckt.
Noch zwei Stunden vergingen, und dann weckte jemand mich.
EINS
Seattle, Washington
Das hohe, schrille » Pling« einer ankommenden E-Mail klingelte wie eine Glocke in meinem Kopf. Ich schrak aus dem Schlaf, und meine Hand fuhr zu der Pistole neben mir. Mein Atem ging keuchend, während meine Augen sich an das Licht gewöhnten, das von meinen Überwachungsmonitoren kam. Ich schaute hinüber zum Fensterbrett, wo ich meine Armbanduhr hingelegt hatte. Der Himmel war noch schwarz wie Tinte.
Ich zog die Pistole unter dem Kopfkissen hervor und legte sie auf den Nachttisch. Ganz ruhig!
Als ich mich gefasst hatte, warf ich einen Blick auf die Monitore. Im Flur und im Aufzug war niemand. Niemand auf der Treppe, niemand unten im Eingangsbereich. Der einzige wache Mensch war der Nachtwächter, der viel zu sehr in ein Buch vertieft war, um etwas zu bemerken. Es war ein altes zehngeschossiges Gebäude, und ich war im siebten Stock. Bewohnt war es je nach Jahreszeit. Nur die Hälfte der Apartments wurde das ganze Jahr hindurch benutzt, und keiner dieser Bewohner stand jemals früh auf. Alle schliefen oder waren den Sommer über nicht da.
Mein Computer machte noch einmal » Pling«.
Ich lebe seit fast zwanzig Jahren von bewaffneten Raubüb erfä llen. Paranoia gehört zum Geschäft, genau wie ein Stapel mit falschen Pässen und Hundert-Dollar-Scheinen unter der untersten Schublade meiner Kommode. Angefangen habe ich als Teenager mit ein paar Banken, weil ich dachte, das Prickeln könnte mir gefallen. Ich hatte nie besonders viel Glück und wahrscheinlich auch nie besonders viel Verstand, aber ich bin immerhin noch nie von der Polizei erwischt oder verhört worden, und meine Fingerabdrücke sind auch nirgends gespeichert. Ich bin sehr gut in dem, was ich tue. Überlebt habe ich, weil ich äußerst vorsichtig bin. Ich lebe allein, ich schlafe allein, ich esse allein. Ich traue niemandem.
Es gibt vielleicht dreißig Menschen auf der Welt, die wissen, dass ich existiere, und ich bin nicht sicher, ob sie alle glauben, dass ich noch lebe. Ich führe notgedrungen ein sehr zurückgezogenes Dasein. Ich habe keine Telefonnummer, ich bekomme keine Post. Ich habe kein Bankkonto und keine Schulden. Ich bezahle nach Möglichkeit immer bar, und wenn das nicht geht, benutze ich eine Reihe von schwarzen Visa-Corporate-Cards, von denen jede mit einem Offshore-Konto verbunden ist. E-Mail ist die einzige Möglichkeit, mit mir Kontakt aufzunehmen, ohne dass es eine Garantie gibt, dass ich darauf antworte. Wenn ich in eine andere Stadt umziehe, ändere ich auch meine Mail-Adresse. Wenn Mails von Leuten kommen, die ich nicht kenne, oder wenn die Mails keine wichtigen Informationen mehr enthalten, lege ich die Festplatte in die Mikrowelle, packe meine Sachen in eine Reisetasche und fange woanders von vorn an.
Mein Computer machte wieder » Pling«.
Ich strich mir mit den Händen durch das Gesicht und nahm den Laptop von dem Schreibtisch neben meinem Bett. Im Posteingang war eine neue E-Mail. Alle meine E-Mails werden mehrfach umgeleitet, bevor sie mich erreichen. Die Daten laufen über Server in Island, Norwegen, Schweden und Thailand, bevor sie zerhackt und an Konten auf der ganzen Welt geschickt werden. Wer versuchen sollte, die IP -Adresse ausfindig zu machen, würde nicht wissen, welches die richtige ist. Diese E-Mail war vor zwei Minuten bei meiner ersten Offshore-Adresse in Reykjavik eingegangen, wo der Server sie mit meinem privaten 128-Bit-Schlüssel chiffriert hatte. Von dort war sie zu einer anderen Adresse, die unter einem anderen
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