Ghostwalker 03.5
Michelle Raven
Ghostwalker
Tuolumne Rancheria, Kalifornien, 1965
Tenaya versuchte, sich gedanklich in eine andere Welt zurückzuziehen, aber es gelang ihm nicht. Wenn sich Howi einmal in seine unbändige Wut hineingesteigert hatte, konnte ihn nichts davon abhalten, seinen Sohn mit Fäusten, einem Riemen oder Besenstiel zu verprügeln. Deshalb biss sich Tenaya nur auf die Lippe, als ihn ein weiterer Schlag traf, und bemühte sich, die Schmerzenslaute zu unterdrücken, die sich in seiner Kehle stauten. Er schmeckte Blut und schloss die Augen. Es gab keine Stelle an seinem Körper, die ihm nicht wehtat.
Wut stieg in ihm auf, heiß und lodernd, und verdrängte für einen Moment die Schmerzen. Noch nie im Leben hatte er einen solchen Hass verspürt wie gerade auf seinen Vater. Wie konnte Howi seinem eigenen Sohn so etwas antun? Und vor allem, wie konnte Tenaya selbst es zulassen, immer wieder so misshandelt zu werden, ohne sich zu wehren? Inzwischen war er alt und vor allem stark genug, um dem ein Ende zu bereiten. Bisher hatte er sich nur aus Rücksicht auf seine Mutter zurückgehalten, die nichts von den Misshandlungen wusste und ihren Mann liebte, doch jetzt konnte er es nicht mehr ertragen.
Er zuckte zusammen, als ihm ein brennender Schmerz über den Rücken fuhr.
Beim nächsten Schlag drehte er sich um und riss seinem Vater den Riemen aus der Hand. Howi starrte ihn mit blutunterlaufenen Augen an, sein Atem stank nach Alkohol. Es dauerte einen Moment, bis er verstanden zu haben schien, was passiert war. Sein Gesicht lief noch dunkler an, seine schwarzen Augen verengten sich drohend. Seine Faust schoss vor und traf seinen Sohn im Magen. Übelkeit stieg in Tenaya empor.
Bevor er darüber nachdenken konnte, schlug Tenaya zurück. Howis Kopf ruckte von der Wucht zur Seite, und er geriet ins Straucheln. Er fiel nach hinten und riss im Fallen einen Stuhl mit. Schockiert von seinem eigenen Handeln sah Tenaya bewegungslos zu, während Howi sich mit rotem Gesicht wieder auf die Beine kämpfte. Blut lief ihm aus dem Mundwinkel, und er wischte es mit dem Handrücken weg.
"Du glaubst also, du kannst es mit mir aufnehmen, Junge? Du warst schon immer ein Schwächling und wirst es auch immer bleiben!"
Sofort stürzte sich sein Vater wieder auf ihn. Tenaya versuchte auszuweichen, aber der Tisch hinter ihm hinderte ihn daran und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Diese Gelegenheit nutzte Howi und packte Tenaya bei den Haaren.
Schmerz zuckte ihm durch den Schädel, und etwas in ihm zerbrach. Seine Hände schossen vor und schlossen sich um die Kehle seines Vaters. Er bemerkte gar nicht, dass Howi sich wehrte und auf ihn einschlug. Erst als die Gegenwehr seines Vaters immer schwächer wurde, erkannte er, dass er dabei war, ihn zu erwürgen.
Abrupt ließ er ihn los und trat zurück. Mit weit aufgerissenen Augen verfolgte er, wie Howi auf dem Tisch zusammensackte und schwer nach Atem rang.
Was hatte er getan? Das Blut rauschte so laut in seinen Ohren, dass er nichts mehr hören konnte. Mit der Gewissheit, nicht besser zu sein als sein Vater, kam der Selbsthass. Jeder Atemzug, jede kleinste Bewegung schmerzte, aber er musste raus, hielt es nicht mehr aus, eingesperrt zu sein. Er wollte in die Natur eintauchen, ein Teil von ihr werden, bis er vergaß, wer er war und wozu ihn sein Vater getrieben hatte. Schritt für Schritt arbeitete er sich bis zur Haustür vor. Die Verandastufen knarrten unter seinen Füßen, und er zuckte erschrocken zusammen, obwohl er wusste, dass Howi noch nicht in der Lage war, ihm zu folgen.
Tenaya musste sich beeilen, damit seine Mutter ihn nicht so sah, wenn sie nach Hause kam. Howi schlug ihn nur, wenn Malila nicht da war, und Tenaya hatte gelernt, die Spuren seiner Misshandlung vor ihr zu verbergen. Aber diesmal konnte er nicht so tun, als wäre alles in Ordnung, etwas in ihm war zersprungen. So schnell wie möglich überquerte er das Rasenstück vor dem Haus und tauchte in den Wald ein.
Der Wind strich sanft über seinen nackten Oberkörper und kühlte seine Wunden. Einen Moment lang genoss Tenaya das Gefühl, dann lief er los. Es war ihm egal, dass der Schmerz bei jedem Schritt durch seinen Körper schoss und Zweige ihm ins Gesicht und an die Arme peitschten, er wollte nur fort. Er kreuzte einen Wanderweg und schlitterte einen steilen Abhang hinunter. Als er hinfiel, rappelte er sich wieder auf und lief weiter. Erst als die Seitenstiche so heftig wurden, dass er keine Luft mehr bekam, blieb er
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