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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Reh
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die sie in dieser deutlichen Form noch nie von ihm erfahren hatte. »Bernhard«, sagte sie und lächelte, »ich …«
    Da klopfte es an der Tür; wenige Augenblicke später trat Thomas halb ins Zimmer. Seine Stimme war belegt. »Wir müssen uns unterhalten. Mein Vater ist gestorben. Eben in diesem Moment. Ich hab’s gerade gehört.«
    Wie unwirklich dies alles war. Als habe sie eine Schwelle übertreten in eine Welt, in der tatsächlich alles möglich, aber dafür nichts mehr wirklich war. Als müsse man die Vielzahl der Möglichkeiten mit dem Verlust ihrer Wirklichkeit erkaufen. All dies schien sie nicht zu betreffen, obwohl sie so große Erwartungen gehabt hatte, sehnsüchtige Erwartungen; es war, als sei sie noch gar nicht angekommen; als sei sie, nach all den Jahren, noch immer unterwegs.
    »Ich weiß nicht, ob Sie eine Ahnung haben, was in Frankfurt los ist. Oder in Berlin«, sagte Thomas, als sie sich unten im Restaurant des Hostals zusammengefunden hatten. Die Nachricht schien in Bernhard zu wüten wie ein finsterer Sturm; sie hatte ihn auf andere Gedanken bringen wollen. Doch nun sah sie, dass sie geradezu das Gegenteil erreicht hatte, indem Thomas ihnen bis hierher nachgestellt, sie nachgerade hier unten   festgesetzt   hatte wie Ankläger und Standgericht in einer Person. Ihn noch dazu neben Valerie zu sehen, zu wissen, dass die beiden gemeinsam hergekommen waren, verärgerte sie auf eine schwer fassbare Weise. Oder war es die Tatsache, dass ihre Begegnung mit Bernhard so vollkommen anders verlief, als sie sich vorgestellt hatte? Und was   hatte   sie sich vorgestellt?
    »Was ist denn in Frankfurt los?«, fragte Bernhard tonlos.
    »Sie haben … Sie haben alles ruiniert. Vollständig. Gründlich. Es ist nicht zu fassen.«
    »Sie müssen schon erklären, was Sie mit ›alles‹ …«
    »Ach kommen Sie schon«, schrie Thomas jetzt und knallte die Faust auf den Tisch; die Plötzlichkeit seines Ausbruchs ließ Carmen erschreckt hochfahren. Sie drehte sich um: Noch waren sie die einzigen Gäste in der Bar des Hostals, es war früh am Abend, und von Touristen konnte zu dieser Jahreszeit kaum die Rede sein. Ohnehin war schwer vorstellbar, dass jemals welche in dieses schäbige Nest kommen würden. »Da sind zweihundert, zweihundertfünfzig Millionen an offenen Positionen. Vielleicht noch mehr. Das bedeutet Abwicklung, sonst gar nichts. Haben Sie überhaupt eine   Ahnung , was Sie da angerichtet haben?«
    Sie spürte, dass Bernhard sich bemühte, seine Stimme nicht kraftlos, sondern nur ruhig klingen zu lassen. Außer ihr bemerkte vielleicht niemand den Unterschied. »Weswegen bin ich wohl hier?«
    »Das wüsste ich auch gern. Ich habe keine Ahnung, weswegen Sie hier sind, Sie sagen ja keinen Ton. Was weiß ich, was Sie vorhaben? Sie haben eine Viertelmilliarde verbrannt, einfach verbrannt. Haben Sie mal daran gedacht, dass es Menschen gibt, die dieses Geld zum Leben brauchen? Die jetzt ihren Fahrradladen oder das Softwarebüro zumachen können, weil sie kein Geld mehr kriegen? Haben Sie daran auch nur eine einzige Sekunde gedacht? Also wenn Sie mit dieser Sache hier einen Plan verfolgt haben, dann war der Plan beschissen, absolut beschissen, von vorne bis hinten.«
    Sie konnte nicht glauben, dass es sich bei diesem selbstgerechten Eiferer um denselben Mann handelte, der sie noch vor einer Woche mit zurückhaltender Stimme bei ihren intimsten Problemen beraten hatte. Ein heftiger Widerwille ließ sie erschauern.
    »Ich wollte helfen. Der Bank helfen.« Bernhard hob, noch immer auf den Tisch starrend, ziellos die Hände; seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Carmen konnte das kaum ertragen.
    »Was glauben Sie, wie Sie der Bank helfen, wenn Sie eine Viertelmilliarde verbrennen?«
    »Ich bin Ihnen keine Rechenschaft schuldig.«
    »Ach nein? Wem denn?«
    »Niemandem. Johann.«
    »Der ist tot. Verstehen Sie das?   Sie   haben …«
    »Das reicht«, platzte es aus Carmen heraus. »Ich weiß nicht, was Sie damit erreichen wollen, meinen Mann in die Ecke zu treiben.«
    Bernhard hob ruckartig den Kopf, nur eine Sekunde lang, und sah sie scharf an. Sie verstummte. Ihr Herz hämmerte plötzlich in ihrer Brust. Sie versuchte, sich zu beherrschen, doch von Neuem brach es aus ihr heraus. »Es ist abscheulich, wie Sie meinen Mann zu manipulieren versuchen!«
    »Wie bitte? Ich …«
    »Carmen …« Valerie, die neben ihr saß, hatte mit ihrem destruktiv-gelangweilten Gesicht dabeigesessen, als ginge sie die

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