Gibraltar
wieder zu einem Gesicht wurde.
Sie wählte Valeries und dann Thomas’ Nummer, ohne allerdings ein anderes Ergebnis zu erzielen als zuvor, mit der Ausnahme, dass nun nicht einmal mehr die Mailbox des »Ratgebers« ansprang. Dies mochte bedeuten, dass er telefonierte und es somit Hoffnung gab, ihn bald zu erreichen. Sie spürte, wie sie durch diese Aussicht ihre Fassung ein wenig zurückerlangte.
Von der Terrasse aus konnte sie in eine kleine Bucht sehen, die offenbar an ein Ferienresort angeschlossen war. Trotz des wechselhaften Wetters hatten sich einige Familien an den Strand gewagt; die Eltern lagen, bedeckt mit großen Badetüchern, auf Liegestühlen unter einer Schilfüberdachung, während die Kinder, ungeachtet der vorsommerlichen Temperaturen, sich nicht davon abhalten ließen, im Meer zu planschen. Zwei Kinder kamen gerade schlotternd aus dem Wasser und wuschen unter einer Dusche, die wie ein großer Fliegenpilz geformt war, das Salzwasser von ihren Körpern, wobei sie sich unablässig bespritzten. Sie konnte sehen, dass es sich um Geschwister handelte, einen Jungen und ein deutlich älteres Mädchen. Sie beobachtete dieses einfache, kleinbürgerliche Ferienglück, in dem die Kinder abends im Hotelrestaurant in ihrem Essen herumstochern und die Eltern, die sich doch nur von ihrer anstrengenden Arbeit erholen wollten, für das schlechte Wetter oder die langweilige Unterbringung verantwortlich machen würden, sodass aus dem großen Ziel, endlich eine unbeschwerte Zeit miteinander zu verbringen, wieder einmal nichts werden würde. So würde es kommen, dachte sie, so war es vorgesehen …
Sie hatten nie um ihn getrauert, dachte sie. Es war in solchen Situationen wichtig, schnell wieder in die Normalität zurückzufinden. Und tatsächlich, sie fanden sich in der Normalität weitaus besser zurecht als in der Trauer. Es funktionierte. Sein Tod hatte ihre Liebe nicht mit einem Bannfluch belegt, hatte nicht aus jeder Frage und jeder Andeutung einen stillen Vorwurf gemacht. Ihre Beziehung ruhte auf einem starken Fundament. Sie hatten gut daran getan, sich nicht in Trauer zu verlieren, sondern sich gegenseitig ein Vorbild darin zu sein, vorwärtszuschauen, in die Zukunft. In ihre gemeinsame Zukunft.
Eine Weile noch stand sie an dem Geländer und schaute dem Treiben am Strand zu. Eine innere Ungeduld drängte sie zur Eile; und als sie in sich hineinfragte, was sie hier zurückhielt, stellte sie fest, dass es ein Ziel war – ihr fehlendes Ziel. Wohin sollte sie fahren? Gibraltar war klein, aber doch zu groß, um darin einen einzelnen Menschen zu finden.
Sie zog abermals ihr Telefon hervor und drückte auf Wahlwiederholung. Es klingelte viermal; beim sechsten würde sich Thomas’ Mailbox melden. Sie wollte eben ausschalten, da war plötzlich seine Stimme in der Leitung. »Ja.« Sie klang nicht verwundert; sie klang nie verwundert, immer derselbe abgewogene, von verhaltenem Interesse getragene Tonfall.
»Ich bin in Spanien«, sagte sie.
»Das ist … eine Überraschung.«
Sie ärgerte sich über seine Überheblichkeit, das wurde ihr plötzlich klar; die ganze Zeit schon, während sie seine Beratung in Anspruch genommen hatte, hatte sie sich über dieses stets wohltemperierte, aber im Grunde nichtssagende Interesse geärgert, ohne dass es ihr bewusst gewesen wäre.
»Wieso soll das eine Überraschung sein, ich suche meinen Mann. Was finden Sie daran überraschend?« Plötzlich kam ihr das Du, auf das sie in Johanns Haus verfallen waren, unpassend und allzu jovial vor; so als versuche sie ein Vertrauensverhältnis anzustreben, das sie doch endlich als unmöglich erkannt hatte.
»Ich meinte nur die Tatsache, dass Sie bereits hier sind.«
»Was auch immer. Ich möchte ihn sprechen.«
»Ja«, sagte er, als sei es ganz selbstverständlich. »Warten Sie einen Augenblick. Er ist hier.«
3
Sie versuchte, hinter die Tür zu sehen und so eine Vorstellung zu gewinnen von dem, was sie erwartete. Sie wusste: Diesmal würde ihr Wiedersehen besser verlaufen. Es musste.
Langsam, zögerlich und erst nachdem sie zum dritten Mal geklopft hatte, öffnete sich die Tür. Bernhard war durch ihren Anruf bereits über ihr Kommen informiert gewesen, und der Ausdruck des überraschten Schocks breitete sich nun, anders als im Méridien, eher in ihrem eigenen denn in seinem Gesicht aus, als sie die Hämatome und Schürfwunden in seinem Gesicht sah.
»Oh Gott, was ist dir denn zugestoßen?«
Er ließ die Tür offen stehen und
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