Gibraltar
hatte. Die Tempobegrenzung ignorierte sie in der Überzeugung, jedes nur erdenkliche Recht zu haben, den Flughafen so schnell wie möglich hinter sich zu lassen, und tatsächlich erreichte sie nach einer grünen Ampelphase die Zubringerstraße. Sie hatte keine Ahnung, in welche Richtung sie fahren musste, doch sie war sicher, dass sie den Weg finden würde.
Als sie die Überlandstraße erreichte, die mutmaßlich die Küste südwärts hinabführte – zumindest Marbella war ausgeschildert –, fühlte Carmen augenblicklich, wie neue Euphorie ihren Brustkorb entkrampfte. Über ihr riss die Wolkendecke auf, und obgleich es noch immer wie aus Kübeln schüttete, flutete Licht die Landschaft, die sich links und rechts der Autostraße prachtvoll öffnete. Einen Augenblick lang spielte sie mit dem Gedanken, das Verdeck trotz des Regens zu öffnen, so sehr schäumte das Gefühl in ihr über, dies alles hinter sich lassen zu können, sämtliche vergangenen Verfehlungen, sowohl seine als auch ihre. Dass alles eine Frage der Bereitschaft war, sich für etwas Neues zu öffnen …
Sie war etwa eine halbe Stunde lang gefahren, da bot sich ein idyllischer Park, durch den die Autostrada führte und der unmittelbar am Meer gelegen war, für einen Zwischenstopp an. Zum einen war sie durstig und wollte so schnell wie möglich Valerie oder Thomas erreichen. Zum anderen überprüfte sie auf der Damentoilette des El Estrecho, vor dem sie parkte, ihr Make-up und ihre Kleidung. Im Waschraum gab es einen Ganzkörperspiegel, und so stellte sie erfreut fest, dass das lange Sitzen ihrem Kostüm nicht geschadet hatte. Allerdings war es nötig, ihren Teint aufzufrischen, wofür sie lediglich etwas Blush nachlegen musste. Bedauerlicherweise hatte sie bei ihrem letzten Einkauf den korallfarbenen, den sie sonst benutzte, nicht bekommen, sodass sie nun auf einen anderen zurückgreifen musste, der allerdings, wie sie jetzt feststellte, kaum den gewünschten Deckungseffekt erzielte. Sie versuchte, ihn mit den Pink Rebel Lustre Drops zu verstärken, doch der Glue-Effekt auf den Wangen verlieh ihr, wie sie fand, lediglich ein angemaltes Aussehen. Wenn sie so vor ihm stehen würde, dachte sie, wäre es kein Wunder, wenn er ihr sogleich die Tür vor der Nase zuwürfe, denn sie sah geradezu billig aus, aufgedonnert wie eine Professionelle. Plötzlich ergriff Carmen eine unbändige Wut, nicht nur auf die Firma L’Oréal, die es nicht zuwege gebracht hatte, ihren gewohnten Blush in ausreichender Menge vorzuhalten, sondern auf sich selbst, weil sie sich mit minderwertigem Ersatz hatte zufriedengeben wollen. Ohne sich davon abhalten zu können, riss sie einige Papierhandtücher aus dem Spender, feuchtete sie an und rieb sich hektisch die Farbe vom Gesicht. Als sie auf das verschmierte Resultat blickte, verstärkte das aber nur ihren aufbrandenden Selbsthass, denn nicht nur war jetzt die Grundierung völlig zerstört, auch die abgelösten gräulichen Krümel des Altpapiers klebten überall in ihrem Gesicht. Es war unverzeihlich und albern, wegen solch einer Lappalie die Fassung zu verlieren, doch als sie das dachte, liefen ihr schon die Tränen über das Gesicht, und weil sie nicht wusste, wohin mit dem schrecklichen Zorn, der unangekündigt in ihrem Leib explodierte, ließ sie sich auf die Kacheln des Waschraums sinken und die Konvulsionen des Weinkrampfs durch ihren Körper zucken, ohne sich dagegen zu wehren. Sie wusste, so würde es am schnellsten vorübergehen.
Eine junge Spanierin, kaum eine Frau, betrat die Toilette, prallte entsetzt zurück und fragte sie dann durch die schon wieder halb geschlossene Tür auf Spanisch, ob ihr etwas fehle. Carmen gab zurück, dass sie sich nicht um sie zu kümmern brauche, dass niemand sich zu kümmern brauche. Erst nachdem sich die Tür vollends wieder geschlossen hatte, stieg ihr die Peinlichkeit ihrer Lage zu Bewusstsein, so dass sie die Kraft fand, ihre auf dem Boden verstreuten Habseligkeiten einzusammeln und sich in eine der Kabinen zu flüchten.
Eine halbe Stunde später trat sie auf die Terrasse des Imbisslokals im Bewusstsein, dass sie die Frische, die ihrem Look noch bei ihrem Aufbruch zu eigen gewesen war, durch ihre lächerliche Heulerei nun unwiederbringlich zuschanden gemacht hatte. Sie hatte zu retten versucht, was möglich war, und mit Eyeliner und Mascara wenigstens notdürftig die Grundkonturen wiederhergestellt, so dass ihre furchtbare Maske aus Selbstmitleid und Chemie gerade eben
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