Gibraltar
ihrer Mutter in Frankfurt gewohnt habe, dass sie sich wahnsinnig freue, ihn zu sehen, dass es ihr nicht gutgegangen sei in den letzten Wochen und sie sich wahnsinnig freue, ihn zu sehen, und dass sie ihre Mutter jetzt nach Berlin begleitet habe, weil sie wusste, dass sie ihn hier treffen würde. Und dass sie sich wahnsinnig freue –
»Du wusstest, dass du mich hier treffen würdest? Woher?«
Thomas’ Verwirrung zerstreute sich nicht, im Gegenteil. Sie hatten seit Jahren keinen Kontakt mehr gehabt. Woher konnte Valerie auch nur das kleinste Detail über ihn in Erfahrung gebracht haben? Valeries Mutter war inzwischen, nachdem sie ihn kurz begrüßt hatte – und zwar seltsamerweise so, als würden sie sich bereits kennen –, an ihnen vorbeigegangen und sprach gerade mit Thomas’ Mutter. Er suchte auch hier noch nach der Verbindung zwischen ihr, seiner Familie und sich selbst, als Valerie sagte: »Ich bin jetzt übrigens wieder verrückt.«
»Oh.« Er versuchte es leicht zu nehmen, vielleicht einen Scherz anzuschließen, etwas zu antworten, das ein Mensch wie seine Schwester zur Antwort geben würde, doch ihm fiel nichts ein. Er hatte Angst; das war das einzige Gefühl, das er in sich finden konnte. Aufsteigende Panik.
»Können wir uns treffen?«, fragte Valerie.
»Moment mal«, sagte er und trat instinktiv einen Schritt zurück. »Wir treffen uns doch gerade. Wir können uns nicht treffen.«
Er sah, wie es in ihrem Gesicht arbeitete, obgleich ihre Mimik merkwürdig hölzern wirkte – eine Wirkung jener Neuroleptika, die er damals viel zu früh wieder abgesetzt hatte. Er wusste, dass ihre Affekte momentan ähnlich flach sein mussten wie die Herzfrequenz seines Vaters. Ihr Blick war langsam und starrend, ihre Bewegungen statisch, ihre Reaktion verzögert.
»Wir können uns nicht treffen«, wiederholte er. »Auf keinen Fall. Ich hoffe, du verstehst das.«
Ihr Gesicht blieb nahezu unbeweglich; Thomas konnte nicht wissen, ob er Zeuge ihrer Selbstbeherrschung oder der routinierten Wirkung ihrer Medikamente wurde. Sie sagte: »Ich habe dich vermisst. Hast du mich auch vermisst? Ein bisschen? Ich habe echt lange versucht, deine Nummer rauszukriegen. Wo warst du? Hast du dich versteckt?«
Thomas spürte, dass es eine richtige, eine professionelle Antwort auf diese Fragen gab, eine Antwort, die er allerdings nur dann gefunden hätte, wenn er sich in sicherer Entfernung zum Geschehen, beispielsweise am Ende einer Telefonleitung, befunden hätte. So jedoch stotterte er, völlig konzeptlos: »Valerie, ich … ich freue mich, dich zu sehen, aber wir … wir wollten gerade gehen.«
Valerie blickte sich zu der kleinen Gruppe seiner Familie um, bei der nun auch ihre Mutter stand. Dann deutete sie mit einem Nicken auf die Intensivstation. »Er ist dein Vater, oder?«
Er dachte nicht nach; vielleicht kam seine Entgegnung deswegen so zusammenhanglos: »Was in aller Welt machst du hier, Valerie?«
»Ich bin mit meiner Mutter gekommen.«
»Ja, das sehe ich. Aber weswegen ist deine Mutter hier? Woher kennt sie meine Eltern?«
Valerie dachte angestrengt nach; dann zuckte sie die Schultern und lächelte ihn entschuldigend an. »Ich kann mich gerade nicht hören.«
6
Als sie gemeinsam in Dahlem angekommen waren, brauchte er Zeit für sich allein, um klare Gedanken zu fassen, daher blieb er unter dem Vorwand draußen, eine Runde mit Sol Moscot drehen zu müssen. Die Entscheidung, Valerie und ihre Mutter per Taxi in das albertssche Haus zu bestellen, war ohne sein Zutun auf Einladung seiner Mutter gefallen, und er hätte sie nicht anfechten können, ohne bei ihr dadurch Irritationen hervorzurufen. Und so konnte er, als Valerie ungefragt Anstalten machte, ihn auf seinem Spaziergang zu begleiten, nicht ablehnen, ohne Gefahr zu laufen, ebenjenes Aufhebens zu verursachen, das er um jeden Preis zu verhindern bestrebt war. Seine Mutter hatte Thomas, als sie im Fonds des Mercedes hinter Feldberg und dem Fahrer Emmerlein Platz genommen hatten, bereits gefragt, woher ihm Milbrandts Tochter bekannt sei. Er hatte darauf keine Antwort geben können. Seine Mutter hatte dann, seine Abwehr respektierend, abgelassen – vielleicht auch, weil Thomas, im Versuch der Ablenkung, sie gefragt hatte, ob Frau Milbrandts Besuch auf eine Verwicklung ihres Mannes in die Vorgänge in der Bank hindeute. Seine Mutter gab darauf nur eine vage Kopfbewegung zur Antwort.
»Es gibt noch keine gesicherten Erkenntnisse«, schaltete sich mit einer halben
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