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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Reh
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Drehung vom Beifahrersitz nach hinten Feldberg ein. »Wir sollten noch warten, ehe wir Vermutungen anstellen.«
    Milbrandts Name war Thomas durchaus ein Begriff. Als er der Bank den Rücken gekehrt hatte, war dieser von seinem Vater wenig später als sein Nachfolger herangezogen worden, der ihn, wie Thomas einsehen musste, an geschäftlichem Instinkt, Tatkraft und Ehrgeiz rasch übertroffen hatte – und zwar so deutlich, dass die Nachfolge sich bald nicht mehr nur auf die Bank, sondern immer mehr auch auf den gesamten Familienstatus bezogen hatte, wie Thomas glaubte. Umso erstaunter war er, Milbrandt auf einmal als Teil eines unerhörten Zusammentreffens zu erkennen, das, zumindest nach seinem Dafürhalten, unmöglich ein Zufall sein konnte.
    So nutzte er nun, da er mit Valerie unfreiwillig die schmalen Wohnstraßen hinauf zur Freien Universität nahm, die Gelegenheit, sie nach ihrem Vater zu befragen. Er wusste, dass er damit die Geschichte ihrer Krankheit, die auf verhängnisvolle Weise auch zu seiner Geschichte geworden war, weiträumig zu umgehen versuchte und zugleich mitten in sie hineinzielte.
    »Was ist das also für eine Geschichte mit deinem Vater?«, fragte Thomas und entschied, die Strenge, die er in seiner Stimme gewahrte, nicht abzumildern.
    Valerie sah ihn mit geweiteten Augen an. »Woher weißt du davon?«
    »Ich weiß gar nichts.«
    Sie gingen vorbei an noch unbepflanzten Vorgärten und verwitterten Verandamöbeln, bald erreichten sie das Museum der Europäischen Kulturen. Der Vorplatz war verwaist, überhaupt schien sich das gesamte Viertel in den Semesterferien zu befinden.
    »Ich habe gehört, dein Vater ist irgendwie an der Krise in der Bank meines Vaters beteiligt. Weißt du was darüber?«
    »Stiefvater.«
    »Wie bitte?«
    »Er ist mein Stiefvater. Und dass er Krisen verursacht, ist sein … seid   still !«
    Thomas schwieg. Er wusste, mit wem sie redete, beziehungsweise mit wem   nicht ; ebenso wusste er, dass er ihr die Zeit geben musste, die Kommentare zu beantworten, die Beschuldigungen zu entkräften, die Missverständnisse zu klären, in die sie sich verstrickt sah. »Meine Wohnung ist   kein   Schlachtfeld.«
    »Die … Stimmen?«, fragte er wenig später, so, als redeten sie über alte Bekannte.
    »Die nerven mich«, sagte Valerie; bei ihr klang es, als seien die alten Bekannten längst zu drangsalierenden Nachbarn geworden.
    Er nickte. Nach einer Weile, die offenbar ohne Einflüsterungen verstrichen war, sagte er: »Noch mal zu deinem Va …, deinem Stiefvater. Weißt du etwas? Ich meine, niemand sagt etwas, aber es ist für mich offensichtlich, dass er etwas mit dem Chaos zu tun hat, das in der Bank meines Vaters herrscht. Und dann tauchst du plötzlich auf, es stellt sich heraus, dass du seine Tochter bist …«
    »Stieftochter.«
    Er blieb stehen und wandte sich zu ihr. »Was weißt du?«
    »Ich weiß, dass er weg ist.«
    »Was heißt weg?«
    Sie zögerte. Dann sah sie ihn an. »Hilfst du mir?«
    »Wobei?«
    Sie schwieg lange. Er bereute seine Nachfrage, auch wenn er wusste, dass die unerhörte Konstellation ihm keine Alternative dazu ließ. Eine Art Flucht kam unvermittelt an ihr Ende, und er akzeptierte, dass Valeries Antwort ihn tief hineinziehen würde in etwas, das er nicht wollte, ja, das er ein für alle Mal überwunden geglaubt hatte. Er ignorierte den Schrecken über dieses Scheitern, sofern es überhaupt einen gab: Seine Vergangenheit hatte längst damit begonnen, ihn einzuholen.
    Seine Mutter war, selbst in außergewöhnlichen und belastenden Situationen, eine ausgezeichnete Gastgeberin. Das war sie immer schon gewesen. Sie hatte Ulla, die langjährige Haushälterin der Alberts, angewiesen, ein Mittagessen für die improvisierte Gesellschaft bereitzustellen, dessen Duft, als Valerie und Thomas von ihrem Spaziergang zurückkehrten, bereits das Haus erfüllte. Im Esszimmer hörte er Frauenstimmen, offenbar war sogar eine lebhafte Unterhaltung im Gange. Irgendetwas daran schmerzte Thomas und hinderte ihn, Valerie ins Esszimmer zu folgen. Er stand im Eingangsfoyer des Hauses, das mit einem großen antiken Bauernschrank und einem im Bauhaus-Stil gehaltenen Sideboard unfreiwillig beredt von der grundlegenden Weigerung seiner Eltern erzählte, miteinander zu leben, und ließ seinen Blick abwesend schweifen. Sol Moscot setzte sich geduldig auf die Fliesen und wartete ab, zu welchem Tun sich Thomas entschließen würde.
    Vor seinem geistigen Auge belebte sich seine

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