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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Reh
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Mutter im Nebenzimmer und wurde von der eingekapselten, schweigsamen Frau, die von ihrem Mann bei äußerlich intakten Verhältnissen längst sich selbst überlassen worden war, zu einer beseelten Mutterfigur, die ihre Gäste umsorgte und verwöhnte, griffsicher mit Themen jonglierte und wider Erwarten fähig war, Freude an sich selbst und damit ihren Mitmenschen zu haben, als benötigte sie Gäste, um auch sich selbst in ihr Haus einladen zu können. Thomas, zugleich erfreut, dass seine Mutter wenigstens dazu fähig war, beklagte im Stillen, dass diese Gastfreundschaft niemals ihm hatte gelten können. In seinem Groll wollte er sich ihre Metamorphose lieber mit Schauspielerei erklären als damit, dass sie selbst mit entfernten Bekannten ein herzlicheres Verhältnis unterhalten konnte als mit ihrem eigenen Sohn.
    Eben als er sich aus seiner seltsamen Erstarrung löste, weil ihm einfiel, dass er bereits den ganzen Tag lang die vereinbarten Gesprächstermine mit seinen Klienten versäumt hatte, und er sich vornahm, an jeden Einzelnen eine kurze Krankheitsmitteilung zu versenden, kam Stefanie mit nassem Haar die Treppe hinunter. Sie war damit beschäftigt, einen Ohrring an einem Ohr zu befestigen, was ihr nicht ohne Weiteres zu gelingen schien.
    »Soll ich dir helfen?«
    Sie brachte die letzten Stufen hinter sich und stellte sich so zur Tür, dass Thomas einerseits den Schein der durchs Oberlicht dringenden Sonne nutzen, sie ihn andererseits aber mit halb zugewendetem Gesicht fragen konnte:
    »Geht’s dir gut, kleiner Bruder?«
    Er reagierte nicht gleich. Als der Ohrring eingehakt war, sagte er: »Und dir?«
    Sie nickte, zum Zeichen dafür, dass alles beim Alten und somit für den Beginn einer Unterhaltung ungeeignet sei. Stattdessen fragte sie: »Was ist das für ein Hemd?«
    Beinahe erschreckt blickte Thomas an sich hinunter. »Stimmt«, sagte er. »Ich muss das unbedingt ausziehen. Ich habe«, ergänzte er, als er Stefanies fragenden Blick sah, »meine Sachen in Siena gelassen. Der Bus ist in Reparatur.«
    »In Siena«, wiederholte sie mit der Andeutung eines Lächelns, in dem sich eine ganze Geschichte verbarg, die zu lang, kompliziert und auch verfänglich war, um sie zu erzählen. Ihr Lächeln aber setzte sein Wissen darüber voraus, dass sie seine Art der Berufsausübung und Lebensführung zwar für exzentrisch und vielleicht sogar zweifelhaft, aber für ganz allein seine Entscheidung hielt, die gültig war, solange er sich wohl mit ihr fühlte; und Thomas durfte sich so erkannt wissen, ohne sich ertappt zu fühlen. Sie verstanden sich gut durch dieses Lächeln. Als er es erwiderte, sagte sie: »Wenn du willst, kann ich dir eine Bluse von mir leihen.«
    »Ich komme darauf zurück«, sagte er und merkte erst jetzt, dass sie zeitgleich ihr Körpergewicht zu verlagern begonnen hatten, um ihre Unterhaltung zu beenden und hinüber ins Esszimmer zu gehen.
    Dort gerieten sie in einen Bericht Feldbergs, der soeben ein Telefongespräch mit der Bank beendet hatte. Er rekapitulierte, dass das Chaos nun zumindest einen Namen habe: fehlende Zahlungseingänge auf Seiten einiger Geschäftspartner. Es sei, so Feldberg, noch nicht klar, warum die Zahlungen ausgeblieben seien; man könne aber, wie auch schon zuvor angenommen, nunmehr davon ausgehen, dass der Mitarbeiter Milbrandt in einem beträchtlichen oder besser gesagt unbegreiflichen Umfang Leerverkäufe getätigt habe, die wegen explosionsartig steigender Preise überteuert zurückgekauft werden mussten.
    »Können Sie das so erklären, dass ich es verstehe?«, fragte Valeries Mutter spitz, und als sie sah, dass ihre Frage für einen Augenblick gleichsam ohne Rechtfertigung im Raum stand, fügte sie hinzu: »Immerhin hört sich das alles so an, als hätte mein Mann etwas damit zu tun, und angesichts der Auswirkungen, die das hat, würde ich schon gerne …« Sie ließ den Satz unvollendet. Feldberg erläuterte bereitwillig, dass Bernhard sich Aktien, namentlich griechische Staatsanleihen, am Markt geliehen und dann weiterverkauft habe, in der Hoffnung, sie infolge ihres fallenden Kurses wenig später billiger zurückkaufen zu können. Dies sei gängige Praxis. Allerdings habe sich der Markt durch die jüngsten politischen Ereignisse anders entwickelt, als von ihm erwartet. Bereits Donnerstag, als der Kurs drastisch gestiegen war, habe Feldberg den Rückkauf der Papiere angeordnet, was infolge der schieren Menge aber nur unvollständig gelungen sei.
    »Der gestiegene

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