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Giebelschatten

Titel: Giebelschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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ihr unseliges Opfer langsam verdaute.
    Zeiten skurrilen Frohsinns also – bis zu jenem unglücklichen Sonntag Mitte August, als Kater Herodes einer der hungrigen Gemüsestauden zu nahe kam und von ihren Blütenkiefern um die Hälfte seines einst so prächtigen Schwanzes gebracht wurde.
    Gwens Mutter war untröstlich, ließ die gesamte Pflanzenpracht entfernen und im Garten verbrennen – und erzürnte damit ihren Gatten. So schnell sich die langjährige Kluft zwischen den beiden durch die gemeinsame Beschäftigung geschlossen hatte, so geschwind brach sie nun von neuem auseinander, tiefer und unüberbrückbarer als jemals zuvor.
    Gwen beschäftigten zu jener Zeit ganz andere Dinge. Sie dachte über ihre Beziehung zu Martin nach, die immer rein kameradschaftlich geblieben war. Nach Stunden des Grübelns kam sie zu dem Schluß, daß ihr Verhältnis sich auch weiterhin auf einer Ebene reiner Freundschaft bewegen sollte – zu ihrem und Martins Bestem.
    Über all diese Dinge vergaß sie den Ostflügel und das Geheimnis, das ihn umgab. Und auch die anderen Bewohner des Hauses dachten nicht mehr an die verschlossene Tür in der dritten Etage des Treppenhauses. Mit Ausnahme Christophers.
    Der allgegenwärtige Reichtum und die Bequemlichkeit seines neuen Lebens im Luxus brachten ihn auf unheilvolle Ideen, und der Gedanke an eine Expedition in die verbotenen Regionen des Hauses ließ ihn nicht mehr los.
    Und so kam es, daß er an einem Abend Anfang September in den Ostflügel eindrang und dort zum ersten Mal auf die Gewebefrau traf, um ihr sogleich mit Körper und Seele zu verfallen.
     
    Christopher hatte in seinem jungen Leben bereits so viele Schlösser mit Hilfe eines Stückes Draht oder eines Nagels geöffnet, daß die hohe, vieldiskutierte Tür zum Ostflügel für ihn kaum mehr war als eine herbe Enttäuschung. Eine rasche Drehung des Metalldrahtes, ein kurzer Ruck, und der Mechanismus sprang mit einem leisen Klicken auf.
    Dahinter war düsteres Zwielicht. Die meterhohen Wände des Korridors reichten bis weit in die Tiefe des Gebäudes, ihr Ende lag verborgen zwischen finsteren Schleiern aus Schatten und Stille. Durch ein schmales Fenster zu seiner Linken ergoß sich ein einsamer Strahl bleichen Mondlichtes auf den Gang, teilte ihn wie ein diagonaler Balken, in dessen Zentrum aufgewirbelter Staub tanzte wie ein Schwarm Glühwürmchen.
    Christopher schloß die Tür zum Treppenhaus hinter sich und zuckte erschrocken zusammen, als das Schloß verräterisch quietschte. Langsam, fast bedächtig, schlich er den Korridor entlang, zur Rechten von einer Reihe Türen flankiert, von denen der Lack in winzigen Schuppen abblätterte. Ihre oberen Ränder verschmolzen fast übergangslos mit dem Halbdunkel, das zäh und bedrohlich unter der Decke nistete und sich hier und da auf unheimliche Weise zu verschieben schien, als rotte es sich zusammen, um beizeiten auf den nächtlichen Störenfried herabzufahren.
    Er griff vorsichtig nach der Klinke der ersten Tür und drückte sie hinunter. Ohne wirklichen Widerstand gab sie nach und schwang nach innen. Der Anblick dahinter war unspektakulär: ein lichtloses Zimmer, hoch wie alles hier im Haus, voller verhangener Möbelstücke und abgestandener Luft, die seit Jahrzehnten nicht mehr in Bewegung geraten war.
    Er trat zurück auf den Gang, zog die Tür sorgfältig ins Schloß und ging hinüber zum nächsten Raum. Jener unterschied sich durch nichts von seinem Vorgänger, ebenso das dritte und vierte Zimmer.
    Erst beim fünften Versuch wurde er fündig.
    Bereits durch den schmalen Türspalt sah er die Wendeltreppe in einer Ecke des darunterliegenden kurzen Flurs, und als er ihn betrat, bemerkte er, daß die Stufen durch eine Öffnung in der Decke im Dunkeln verschwanden. Aufmerksam sah er sich um und entdeckte nach kurzer Suche unter einem staubigen Leinentuch einen dreiarmigen Kerzenleuchter, der vergessen auf einer Kommode stand. Er griff nach den Streichhölzern, die er vor Beginn des verbotenen Ausflugs in seine Rocktasche gesteckt hatte, und Sekunden später tanzte der unruhige Schein der Flammen geisterhaft über Wände und Decke.
    Er dachte an Gwen, vor der er mit seinem neuerworbenen Wissen prahlen würde, sobald er sich ihres Vertrauens sicher war, und er überlegte, wie er das nächtliche Unternehmen zu Martins Ungunsten ausspielen konnte. Noch fiel ihm keine Möglichkeit ein, aber er zweifelte nicht, daß er einen Weg finden würde. Früher oder später würde er diesem braven

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