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Giebelschatten

Titel: Giebelschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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hinter ihr stand, gleich an ihrem Rücken, aber als sie sich zu ihm umdrehen wollte, da gehorchte ihr Körper ihr nicht mehr und blieb einfach sitzen.
    Während sie so dasaß, starr und hilflos auf ihrem Kamin, und sich verzweifelt bemühte, einen Blick auf die Person in ihrem Rücken zu werfen, legte sich plötzlich eine Hand auf ihre Schulter, schmerzhaft und heiß wie ein Stück Lava.
    Gleichzeitig begann ihr Körper sich zu regen, sie sprang vorwärts und rannte los, konnte aber noch immer nicht den Kopf wenden, spürte nur, daß der Andere ihr folgte.
    Im Traum erreichte sie eine Dachluke, und während um sie herum Tausende von Tauben wie ein lebendiges Feuerwerk in die Höhe stoben, glitt sie in die Öffnung und lief einen dunklen Flur entlang, an dessen Seiten endlose Reihen von Türen vorüberglitten. Dann erwachte sie.
    Es gab keinen Höhepunkt, keinen Abschluß, nur die panische Flucht den imaginären Korridor hinunter, und als Gwen nun die Augen öffnete, stand sie in einem dunklen Gang und fror.
    Einen kurzen, grauenhaften Augenblick lang glaubte sie, wieder im Ostflügel zu sein, doch dann erkannte sie die Tür ihres Zimmers und sah, daß sie zwar schlafgewandelt, jedoch nur wenige Meter weit gekommen war.
    Mit klopfendem Herzen legte sie sich zurück ins Bett und verbrachte den Rest der Nacht in unruhigem Halbschlaf. Immer wieder wachte sie auf und glaubte etwas gehört zu haben, so, als wispere ihr jemand Worte ins Ohr, die sie nicht verstand, und Dinge, die sie nicht wissen wollte.
     
    Die Frau stand hochaufgerichtet im Zentrum der düsteren Dachkammer, groß und schlank, in einem bodenlangen Kleid so schwarz wie ihr aufgetürmtes Haar. Ihr Körper war wie versteinert, bewegte sich nicht um ein Inch. Nur das Gesicht – das schreckliche Gesicht, in dem er gerade noch Gwen erkannt zu haben glaubte – schien zu leben, fast so, als stecke jemand seinen Kopf von hinten durch ein ansonsten lebloses Gemälde.
    Das Furchtbarste aber waren die zahllosen Stränge aus Spinnengewebe, die wie Strahlen eines Seidensterns von tausenden Punkten ihres Körpers zu den Wänden der Kammer führten. Nur ihre Vorderseite, die selbst der lodernde Schein der Flammen nicht zum Leben erwecken konnte, war frei von dem bizarren Garn.
    Alles in ihm schrie danach, sich herumzuwerfen, zu fliehen, so lange es noch möglich war, bevor diese teuflische Erscheinung von ihm Besitz ergreifen konnte.
    Und wahrscheinlich hätte er es ohne zu zögern getan – wäre da nicht dieses Gesicht gewesen, Züge, die sich permanent zu wandeln schienen. Christopher hätte schwören können, daß er Gwen darin erkannt hatte, nicht die Gwen von heute, sondern eine Gwen im Alter von dreißig, nein, vierzig Jahren, eine gereifte Frau von umwerfender Schönheit.
    Aber das war vergangen, und als nächstes wurde sie zu Lady Muybridge, die ihn aus höhnischen Augen betrachtete und den Mund auf und zu klappte, als wolle sie mit ihm reden oder einfach nur nach Luft schnappen wie ein Fisch. Aber kein Laut entwich ihren Lippen, nur ihre Kiefer öffneten und schlossen sich. Dann veränderte sich das Gesicht ein weiteres Mal und wurde zu jemandem, den Christopher erst auf den zweiten Blick erkannte.
    Es war seine Mutter, ihr Kopf auf dem Körper der schrecklichen Gewebefrau, umgeben von einem strahlenförmigen Kranz aus Spinnweben und Netzen.
    »Christopher! Du hast mich also gefunden.«
    Ihre Stimme klang falsch, brüchig und viel zu alt, aber dann erinnerte er sich, daß er seine Mutter zum letztenmal gesehen hatte, als er drei Jahre alt war, damals, als sie ihn auf der Schwelle des Waisenhauses zurückgelassen hatte und für immer in der Nacht verschwunden war.
    »Du siehst nicht glücklich aus«, fuhr die Frau – seine Mutter? – fort, und noch immer klangen ihre Worte, als hätten die Jahrzehnte ihre Stimmbänder zernagt.
    Jetzt sah er auch die Staubschicht, die sich auf dem reglosen Körper angesammelt hatte wie auf einer vergessenen Schaufensterpuppe.
    »Du… du bist nicht meine Mutter«, stammelte er. Fast wäre ihm der Kerzenleuchter aus der Hand gefallen.
    Ihr Gesicht verzog sich zu einem gütigen Lächeln, dann verschwammen die Züge zum letzten Mal und formten etwas, das so unbeschreiblich schön, so ehrwürdig war, daß ihm der Atem stockte. So mußte Gott das Vorbild aller Frauen erdacht haben, Eva oder Lilith, die ersten Frauen Adams im Paradies.
    »Du hast recht, Christopher«, sagte das überirdische Wesen. Wäre da nicht das groteske

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