Giebelschatten
sich ihr Wohlwollen und verhöhnte innerlich ihre Arglosigkeit und grenzenlose Naivität.
Und endlich, nach Monaten des Erduldens und der Heuchelei, war der Tag gekommen, an dem sich seine Mühen auszahlen sollten. Er würde dafür sorgen, daß Miranda, die ältere der beiden, lange Zeit auf die Tanzstunden mit ihm würde verzichten müssen, ohne daß man ihm die Schuld daran geben konnte.
Am zweiten Tag nach seinem Erlebnis in der Dachkammer nahm er Miranda nach Beendigung des Tanzunterrichts beiseite.
»Soll ich dir ein Geheimnis zeigen?« fragte er sie in einem Nebenraum des Ballsaales.
Die Kleine blickte ihn aus neugierigen Augen an. »Ein echtes Geheimnis?« staunte sie.
»Oh ja, natürlich«, erwiderte er. Aus der Tasche seiner Jacke zog er ein Bündel zusammengefalteter Zeichnungen, und als er sie auf dem Boden ausbreitete, lachte Miranda glockenhell auf vor Verzücken und hockte sich neben ihm auf die blanken Holzdielen.
»Wo hast du die denn her?« fragte sie verblüfft.
Christopher gab keine Antwort, lächelte nur geheimnisvoll.
Die Bilder zeigten Menschen, wie Miranda sie noch nie gesehen hatte – höchstens in dem alten Märchenbuch, aus dem Gwen ihr und Nicole hin und wieder vorlas. Manche waren riesig groß und muskelbepackt, andere klein wie Zwerge mit lustig verzogenen Gesichtern. Eine Frau hatte eine Haut wie eine Schlange, grün und schuppig, und da war das Portrait eines Mannes, der so dick und schwer war, daß sich die Beine des Stuhles, auf dem er saß, nach außen bogen. Ein kleines Kind war dabei, ob Junge oder Mädchen konnte sie nicht erkennen; aus seinem Rücken wuchs ein Paar schneeweißer Vogelschwingen, und seine Füße waren geformt wie die Krallen eines Adlers.
Mehrere Minuten lang blickte Miranda fasziniert auf die bunten Zeichnungen, dann schien sie das Interesse zu verlieren.
»Schön«, sagte sie, »aber warum ist das ein Geheimnis?«
Christopher schüttelte verschwörerisch den Kopf und legte seinen Zeigefinger an die Lippen. »Nicht die Bilder sind das Geheimnis«, flüsterte er, »sondern der Ort, an dem es diese Wesen wirklich gibt.«
Jetzt war es heraus! Und das kleine Dummchen reagierte genau so, wie er es erwartet hatte.
»Waaas?« machte sie. »Du meinst…« Sie führte den Satz nicht zu Ende, sondern beobachtete ihn plötzlich voller Mißtrauen. »Flunkerst du auch nicht?«
»Warum sollte ich das tun?«
Langsam beugte er sich über die unwichtig gewordenen Bilder zu ihr hinüber.
»Würdest du gerne mit mir dorthin fahren?« fragte er.
»Fahren?« wiederholte sie. Ihre glatte Kinderstirn legte sich in nachdenkliche Falten. »Da muß ich Mum fragen. Und vielleicht wollen Gwen und die anderen auch mitkommen.«
Das hatte er geahnt. »Nein«, sagte er schnell, »nur wir beide! Jetzt sofort. Du willst sie doch sehen, oder?«
»Natürlich«, rief sie.
»Dann dürfen wir niemandem davon erzählen, weder vorher noch nachher, verstehst du?«
»Hmhm«, machte sie und nickte.
»Du mußt schwören«, verlangte er.
»Beim lieben Gott«, erwiderte sie und schlug ein Kreuzzeichen.
Christophers Herz pochte laut und heftig vor Erleichterung. Lächelnd packte er die Zeichnungen zusammen, nahm das kleine Mädchen bei der Hand und verließ mit ihr das Haus durch einen Hinterausgang.
Zwei Minuten später saßen sie in einer Kutsche und fuhren Richtung East End.
Über dem Durchgang in der rußigen Fassade des Backsteingebäudes hing ein großes Schild mit der Aufschrift FREDERIC’S FREAK-SHOW. Auf den Buchstaben saßen gemalte Gestalten, manche ähnlich wie die auf Christophers Zeichnungen, andere noch fremdartiger. Die Farbe blätterte in zerfaserten Lappen von der Tafel, und der Mann, der im Schatten des Torbogens stand, machte nicht den Eindruck, als wollte er den Zustand des Schildes innerhalb der nächsten Jahre beheben.
»Hi, Fred«, grüßte Christopher. Zufrieden spürte er, wie sich der Druck von Mirandas Fingern um seine Hand verstärkte. Die schmale Seitenstraße war bedeckt mit Abfall, in dem Kinder herumtobten. Ein paar Freudenmädchen lehnten gelangweilt an den Hauswänden. Eine bucklige Gestalt schlurfte gebeugt an ihnen vorüber. Aus irgendeinem Hof hallte das defekte Geklimper eines alten Leierkastens.
»Chris, bist du das?« fragte Fred. Mißtrauisch begutachtete er Christophers teure Kleidung, den gepflegten Haarschnitt – und vor allem die kleine Miranda an seiner Seite. Dann grinste er und entblößte Zahnstümpfe, die aussahen wie kleine
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