Gier (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)
können, heute ist alles, weswegen wir Gregorsen jahrelang dranzukriegen versucht haben, nur noch eine Lachnummer. Wenn man ihn heutzutage auch nur andeutungsweise mit schmutzigen Geschäften in Verbindung bringt, hat man sofort seine Anwälte am Hals: Rufschädigung, Verleumdung, einstweilige Verfügung, Unterlassungsklage.«
»Statt mit MG kämpft das Milieu heute also mit BGB «, fasste Muth zusammen.
»Exakt«, bestätigte Kalkbrenner und umkurvte die Siegessäule. Die nächsten Minuten hingen sie schweigend ihren Gedanken nach, beobachteten die Schneeflocken, die gemächlich auf der Frontscheibe niedergingen, bevor der Scheibenwischer sie ungeduldig zur Seite fegte. Schließlich lenkte Kalkbrenner den Wagen auf den Parkplatz am Alexanderplatz. Der Schneefall gewann an Stärke. Vom Polizeipräsidium war kaum noch etwas zu erkennen, nur vereinzelt wurde das dichte Sturmtreiben vom hellen Flackern eines Schwibbogens durchdrungen, den ein Kollege ins Fenster gestellt hatte.
»Und wer sind diese Gebrüder Jalzin?«, durchbrach Muth die Stille.
Kalkbrenner kramte die Informationen zusammen, die er erst vor kurzem im Zusammenhang mit einem anderen Fall erhalten hatte. »Die Kollegen von der Abteilung 2 beim LKA , Rotlichtkriminalität und Menschenhandel, beobachten schon seit geraumer Zeit – um genau zu sein, seit dem Fall des Eisernen Vorhangs –, dass das organisierte Verbrechen aus den ehemaligen Ostblockstaaten nach Westeuropa drängt. Für die Russenmafia ist Berlin die Hauptstadt Europas. Hier waschen die in der GUS ansässigen Banden das Geld aus internationalen Wirtschaftsverbrechen: 80 Prozent der Berliner Spielhallen wurden inzwischen von Russen aufgekauft, insbesondere die Gebrüder Jalzin tun sich dabei hervor. Das LKA vermutet, dass sie im Auftrag des Moskauer Oligarchen Boriz Ilnowijtsch arbeiten, einem einflussreichen Geschäftsmann, der die chaotischen Zustände nach dem Ende der UdSSR genutzt hat, um zu Reichtum und politischem Einfluss zu kommen. Seine Beziehungen reichen bis in die russische Duma. Nun drängen die Gebrüder Jalzin, die Betreiber des
Fancy,
auch ins Berliner Rotlichtmilieu. Was nicht verwundert, denn Berlin ist
der
Dreh- und Angelpunkt für Prostitution und den internationalen Frauen- und Menschenhandel. Und Gregorsen hat nicht ganz unrecht: Die Russen haben eine andere Mentalität. Ihre Hemmschwelle ist niedriger, die Gewaltbereitschaft äußerst hoch.«
»Also könnten sie tatsächlich Mandy auf dem Gewissen haben?« Muth öffnete die Tür und ein Schwall Eiseskälte drang in den Wagen. »Weil sie ihr Angebot ausgeschlagen hat. Und weil ihr Tod eine Warnung an Gregorsen ist: Komm uns nicht in die Quere!«
»Denkbar ist das«, pflichtete Kalkbrenner bei. »Aber genauso gut kann Gregorsen die junge Frau selbst ermordet haben, weil sie bei den Russen anfangen wollte: Kommt
mir
bloß nicht in die Quere.«
Muth presste die Lippen aufeinander. An ihrer Miene konnte Kalkbrenner ablesen, was sie dachte.
Nicht reden, handeln.
Eine Formel, die auch für das Rotlichtmilieu galt. Er stieg aus dem Wagen.
»Und jetzt?«, fragte Muth skeptisch.
»Jetzt haben wir Feierabend.«
»Feierabend? Sollten wir nicht ...?!«
Kalkbrenner zog seinen Schal dichter um den Hals und knöpfte seinen Mantel bis zum Kinn. »Der Fall ist aussichtslos. Denn egal, wer den Mord an Mandy auf dem Gewissen hat, Gregorsen oder die Russen, sie selbst werden sich nicht die Hände schmutzig gemacht haben. Sie haben jemanden mit dem Mord beauftragt, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche, und der Mörder ist längst über alle Berge.«
»Also werden wir den Fall nicht aufklären können?«
Kalkbrenner schüttelte den Kopf. »Wenn überhaupt, wird er sich selbst aufklären.«
Muth runzelte die Stirn. »Wie denn das?«
Kalkbrenner zuckte mit den Achseln, lächelte verhalten, winkte seiner jungen Kollegin noch einmal und eilte zur U-Bahnstation.
Drei Stunden später weckte ihn der schrille Ton seines Mobiltelefons. Bernie, der Bernhardiner, der es sich neben ihm auf dem Sofa bequem gemacht hatte, bellte schläfrig, bevor er sich auf den Rücken rollte und alle Viere von sich streckte.
Kalkbrenner rieb sich die Augen. Er war vor dem Fernseher eingeschlafen. Auf der Mattscheibe flimmerte Werbung für Telefonsex.
Ruf! Mich! An! Sofort!
Eine Peitsche knallte.
Das Handyrasseln nahm kein Ende. Die Nummer auf dem Display gehörte Sera Muth. »Gregorsen ist tot«, teilte die junge Kollegin mit.
»Mhm«, machte
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