Gier (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)
»Asim, halt doch selbst dein Maul!«
Asim zeigte ihm den Stinkefinger, dann zog er die Kapuze seines Sweaters tiefer in die Stirn und spähte um die Mauerecke herum, in deren Schatten sie sich verbargen. Von den Fetzen einer zerrissenen Zeitung, die der Wind raschelnd vorwärtstrieb, und einem offenbar vergessenen T-Shirt abgesehen, lag der Schulhof leer und verlassen vor ihnen.
Auf den Straßen jenseits der Schule herrschte dagegen wie immer Hektik. Lkws parkten in zweiter Reihe vor dem asiatischen Stehimbiss, der türkischen Döner- und der deutschen Frittenbude mit dem Namen
Bratfritze
. Spediteure schrien einander irgendetwas zu, während sie Kartons abluden. Autofahrer hupten, weil der Verkehr sich staute. Die S-Bahn ratterte quietschend über die Hochgleise. Gab es auf der Straße einmal einen seltenen Moment der Ruhe, dann dröhnte aus irgendeinem der Fenster kreischender Orientpop oder das Geschimpfe eines Mannes, der ein Problem mit seiner Frau, seinen Kindern oder sonst wem hatte. Der Lärm gehörte zu dem Stadtviertel dazu wie die Graffiti auf den Häuserwänden oder die Hundescheiße auf den Gehsteigen. Nur das Vogelgezwitscher aus den Bäumen mochte nicht so recht in die grauen Häuserschluchten passen.
Lukaz hob die rechte Hand, formte mit Daumen und Zeigefinger eine Waffe und richtete sie auf eine Baumkrone. »Bum!«, machte er. Weil sein Kumpel nicht reagierte, sagte er: »Ey, Asim. Mein Bruder hat wirklich schon mal auf Vögel geschossen, drüben im Görlitzer Park. Ich war dabei.«
Asim verdrehte die Augen.
»Ich schwör’s.«
»Du weißt doch noch nicht einmal, wie man eine Knarre entsichert.«
»Wetten doch.«
Lukaz griff in seine Jackentasche und zog etwas heraus. »Die ist von meinem Bruder!«
Asim brauchte zwei Sekunden, bis er in dem Zwielicht erkannte, um was es sich bei dem schwarzen Gegenstand in der Hand seines Kumpels handelte. »Bist du total bescheuert?«
»Mann, ich dachte mir, dass …«
»Was? Dass wir ein bisschen Eindruck schinden?«
Lukaz schwieg ertappt. Asim starrte ihn fassungslos an. Sein Kumpel war einen halben Kopf größer, aber zwei Jahre jünger als er. Sie gingen beide in dieselbe Klasse, weil Asim zweimal nicht versetzt worden war. Zuletzt im vergangenen Jahr, als er fast drei Monate lang regelmäßig den Unterricht versäumt hatte. Kurz bevor ihn die Bullen mit dem Beutel Ecstasy-Pillen aufgegriffen hatten. Es war ein dummer Zufall gewesen, nur ein Moment der Unachtsamkeit. Trotzdem zu spät. Sie hatten ihn zu Hause abgeliefert und seinen Eltern mit Jugendamt, Gericht, Knast und noch anderen Bestrafungen gedroht.
»Warum gehst du nicht zur Schule?«, hatte Asims Vater geschluchzt, als der Streifenwagen endlich davongefahren war.
»Was habe ich bloß falsch gemacht?«, hatte er wissen wollen, während er auf seinen Sohn eingedroschen hatte. Immer und immer wieder hatte er mit der Hand ausgeholt und dabei muslimische Gebetsformeln gemurmelt. Asim hatte nichts gesagt, keinen Mucks von sich gegeben. Klaglos hatte er den Schmerz ertragen – genauso wie die Erkenntnis, dass die Schläge seines Vaters nur dessen Enttäuschung über sein eigenes jämmerliches Versagen waren.
Vielleicht wäre für Asim die Versetzung sogar noch drin gewesen, wenn er ein bisschen mehr Vertrauen zur Polizei gehabt hätte. Aber niemand vertraute den Bullen. Man redete nicht mal mit ihnen. Stattdessen hatte Asim sich geschworen:
Noch einmal lasse ich mich nicht erwischen!
Samuel, in dessen Auftrag er mit den Drogen unterwegs gewesen war, hatte versprochen, sich wegen des Vorfalls erkenntlich zu zeigen. Heute wollte er endlich sein Versprechen einlösen. Wenn alles glattging, würde Asim nie wieder auch nur einen Gedanken an Schule verschwenden müssen. Andererseits brauchten er und Lukaz sich keine Gedanken mehr um gar nichts zu machen, sollte Samuel sie hier mit der Knarre erwischen.
»Mann, pack bloß das Ding weg.« Asim schüttelte den Kopf. »Hast du immer noch nicht kapiert, mit wem wir es zu tun haben?«
Lukaz steckte die Pistole zurück in seine Jackentasche. Er öffnete den Mund zu einer Antwort, schloss ihn dann wieder mit einem schnappenden Geräusch, als eine betont freundliche Stimme hinter ihm fragte: »Was habt ihr beiden hier zu suchen?«
»Du bist auf der Suche nach was ganz Besonderem, oder?«
Die Frau zupfte an ihrem Dekolleté. Nicht dass es da viel zurechtzurücken gegeben hätte. Das Kleid war eigentlich nur ein schmaler Fetzen Stoff, noch dazu
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