GIERIGE BESTIE
würde. Aber dem Instinkt folgend ahnte es, dass es besser wäre, jetzt den Schutz der Mutter zu suchen, die ihm diesen aber nicht mehr geben konnte. Denn so sehr sie sich auch am Kind festhielt, so sehr sie bittend nach oben blickte, umso mehr wurde alleine aus ihrem Gesichtsausdruck klar, dass sie erkannt hatte, dass jetzt unausweichlich, ohne jegliche Hoffnung, das Schlimmste passieren würde, was einer Mutter jemals widerfahren kann: Sie wird ihr Kind verlieren.
Das Knäblein und die Mutter alleine konnte man, wenn man sich ernsthaft dazu zwingen würde, die Gesichter der beiden bewusst falsch zu interpretieren, noch als halbwegs friedliche Szene deuten, stünde da nicht hinter dem Knäblein dieser hünenhafte Mann, der mit drohendem Gesicht und mit einem riesenhaften Messer in der Hand bereits Anstalten machte, auf das Kind einzustechen. Im ersten Augenblick war ich nicht in der Lage, zu reagieren. Dann bemerkte ich, was wohl das Perfideste an der ganzen Szene war, dass der Mann, der mit der Rechten den Säbel schwang, die linke Hand bereits in das Haupthaar des Knaben gekrallt hatte. Als ob er alleine mit der Andeutung dieser gewaltsamen Haltung einem Kinde gegenüber bereits die furchtbare Drohung aussprach, dass er womöglich vor den Augen der Mutter den Kopf des Kindes abschneiden wird. Der Mann mit dem Messer hielt sich an den Haaren des Jungen fest, ähnlich dem vom vielen Metzeln und Morden bereits wahnsinnig gewordenen Scharfrichter, der zum Gaudium der unwissenden Menge den bluttriefenden Kopf des Enthaupteten noch einmal aus dem Korb herausholt und wie eine Trophäe in die Höhe hält.
Mein Körper bebte, mein Herz raste, der Puls schlug schwer an meinen Hals, auf dem der Rest meines Kragens klebte. Nun aber vernahm ich ein Gewinsel und ein Geheule, das so markdurchdringend war, dass man am liebsten die Augen schließen und die Hände auf Mund und Ohren pressen würde, um ja nichts zu hören oder einfach loszuschreien. Meine fiebrigen Augen und der schmelzende Schnee taten ihr Übriges, dass die Szene langsam vor meinen Augen zu verschwimmen begann ...
drei
10. Mai 2005, 20.06 Uhr, Genf / Schweiz. Der rote Kreis kroch sehr langsam über die weiße Scheibe. Gleichmäßig, ja man konnte fast sagen, er schlich über das Ziffernblatt. Als er die 12-Uhr-Marke erreicht hatte, blieb er stehen, als ob er sich ausruhen wollte. Aber er wartete lediglich, bis der große schwarze Balken, der den Minutenzeiger darstellte, um einen Strich weiterhüpfte. Just in dem Moment begann er seine schleichende Fahrt erneut. Von jener schwarzen Gitterbank, auf der ich saß, konnte ich gleich 3 Uhren einsehen, die, wie mir schien, in präzisester Form gleichgeschaltet waren, geradezu so, wie man es auch von Schweizer Uhren erwarten würde. Nicht um den Hauch eines einzigen Minutenstrichs wich die rote Sekundenscheibe von der anderen ab. Der Zug, der weiter nach Yverdon, Fribourg, Zürich und Sankt Gallen fahren sollte, wobei noch in zwei verschiedenen Sprachen angekündigt wurde, dass er in Lausanne nicht halten würde, bewegte sich zügig vom Bahnsteig 4 Richtung Süden, und jeder Waggon, der seine Fahrt bei mir vorbei fortsetzte, machte ein Geräusch, als ob eine eiernde Scheibe auf einem anderen Metall ankommen würde. Es war kein unangenehmes Geräusch, es war vielmehr, als ob es zur Präzision der Schweizer Züge dazugehören würde. Eine rote Lok mit der Aufschrift 11324 SBBFFS fuhr in gemächlicher Fahrt am Bahnsteig B 3 vorbei, hielt kurz an und setzte ihre Fahrt dann ebenfalls fort. Ein paar Spatzen hüpften über den Bahnsteig. Die rote Scheibe und der schwarze Balken kamen zusammen wie eine Schere, berührten sich, dann wurde der Abstand zwischen ihnen wieder größer.
20.08 Uhr. Der Bahnbedienstete mit marokkanischem Gesichtsausdruck, der einen roten Arbeitsanzug anhatte, der mit reflektierenden weißen Streifen übersät war, leuchtete bereits in der nahenden Abenddämmerung wie ein Christbaum. Eine Treppe führte vom Bahnsteig nach unten und wurde von einem grünen Plateau abgelöst, das Rollstuhl- und Fahrradfahrern ermöglichte, zügig von der Unterführung auf den Bahnsteig zu gelangen. Gelassene Betriebsamkeit, Touristen mit Rucksäcken und ein Schwarzer, der erregt in sein Handy schrie, in einer Sprache oder einem Dialekt, den ich noch nie in meinem Leben gehört hatte. In einem kleinen Seitengang Schließfächer, geöffnet von 04.30 bis 00.45 Uhr, Nr. 119 bis 218, Zeitungsständer und Telefonzellen,
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