Giftiges Grün
ihr Vater seiner elfjährigen Tochter geschrieben hatte: »Deine Zukunft wird sein, was Du selber daraus zu machen wagst.« Sie blätterte die Fotos durch. Der Schmerz, den sie lange empfunden, weil man sie als kleines Mädchen verraten und ihr den Ort, den sie so geliebt, entzogen hatte, war ausgestanden. Und doch wunderte sie sich, dass sie die Fotos nur an den Ecken wie eine tote Wespe an den Flügeln anfassen konnte. Die Vergangenheit hatte sich als überraschend lebendig erwiesen und sie musste allein damit fertig werden. Nachdem sie Roses Brief zwischen den Servietten gefunden und den Polizeibericht in der alten Zeitung gelesen hatte, hatte sie daran gedacht, Karl anzurufen und ihn zu fragen, ob sie zusammen weiter forschen sollten, ließ es dann aber bleiben. Buchfinkenschlag bedeutete ihm nichts, und wenn sie dem Geheimnis auf die Spur kämen, würde ihr Bruder Leichtfuß seinen Anteil doch nur verzocken. Ihn nicht einzuweihen, mochte ihn vom Spieltisch fernhalten. Außerdem könnte sie mit dreißigtausend Euro drei volle Schuldenjahre tilgen. Wie Onkel Heinrich lag auch Lina nichts am Verlieren.
Berta Weil gärtnerte mit Begeisterung und wechselndem Erfolg. Als sie in dem Alter, da andere Frauen ihre Babys in gewickelten Tüchern um den Hals trugen, ein Kindermädchen engagierte und ihren ersten Garten anlegte, hatte sie mit einem kleinen Schäufelchen alles Mögliche eingegraben, ohne zu fragen, ob dem Pflänzling die zugewiesene Stelle auch behagte. Mit ermutigenden Worten hatte sie sich über die Kümmerlinge gebeugt, sie gedüngt und gewässert und war gekränkt, wenn sie es trotzdem nicht mehr bei ihr aushielten und verschieden. Die Verluste überwogen, denn mehrjährige Stauden sind, was ihre Lebensweise betrifft, etwa so flexibel wie spanische Großinquisitoren.
Die Kinder waren in dieser Zeit wohlgeraten; aber ihrer Mutter war es nicht gelungen in einem von beiden auch nur einen Funken Begeisterung für die Hortikultur anzufachen. Prägend hatte sich in dieser Sache eine Fahrt ins Grüne ausgewirkt, als Lina zehn und Karl sechs war, bei der Berta versucht hatte, einen überfahrenen Hund als wertvollen Beitrag für ihren Komposthaufen von der Landstraße zu kratzen.
Inzwischen hatte die Gärtnerin etwas über die Ansprüche ihrer Pflanzen gelernt, war ein wenig klüger, ein wenig rabiater mit den Siechen und selbst um einiges älter geworden, jedoch nicht minder besessen. Ihren Stolz stellten die Ritterspornbeete dar, deren Azur den Himmel ausstach, und die Rosen, die ihr die Anbetung mit unangekränkelter Schönheit vergalten. Wenn sich ihre Gloire de Dijon zu blühen anschickte, nahm Berta wie ein alter Chinese mit seinem Teekännchen bei ihr Platz, um nichts von dem Wunder zu versäumen.
Sie liebte nicht alle gleichermaßen, aber zu ihrer Überraschung hatten sogar die Funkien, diese benachteiligten Geschöpfe, die fast nur aus Blättern bestanden, mit der Zeit die schattigen Plätze kolonisiert, und die Hortensien, die ihr ebenfalls nicht nahestanden, waren im Abseits zu strotzenden Gehölzen herangewachsen. In ihrer aufgerüschten Rundlichkeit und mit einem Stich Bleu im weißen Haar ähnelte die Gärtnerin selbst Hydrangea macrophylla, während ihr Temperament eher dem der Dachwurz glich, die keines Zuspruchs bedarf um zu gedeihen.
Als Witwe ohne finanzielle Sorgen hatte Berta ein kleines Kavaliershaus auf dem Land gekauft, vor dem sich im 18. Jahrhundert kurfürstliche Jagdgesellschaften gesammelt hatten, und es für ihre Bedürfnisse hergerichtet. Sie spannte Drahtseile für eine Glyzinie vor die Fassade, strich die Zimmerwände gelb und rückte ihren Arbeitstisch in die Mansarde, wo sie allerlei Naturalien, die sie von ihren Spaziergängen mitbrachte, in Wasserfarben abmalte. Hinter dem Haus pflanzte sie einen Stauden- und Gemüsegarten, ein Rosarium und ein Knotenparterre, dessen Buchsschleifen ein blaues Boudoir aus Spalierwänden umkränzten. Die Idee hatte Berta von der Schriftstellerin Colette übernommen, die in ihrem provenzalischen Garten die Sommernächte auf einer Terrasse voll blauer Blumen zu verschlafen pflegte. Berta stellte sich Madame unter einer Pergola vor, die von Passionsblumen in Bleu Mourant durchflochten war, umgeben von Terrakottatöpfen mit glühend enzianblauem Solanum und gletscherkühler Bleiwurz, dazu ein laues Lüftchen, das Lavendelduft herbeifächerte. Da Colettes Blumen einen deutschen Winter nicht überlebt hätten, war Berta auf Schwertlilien und
Weitere Kostenlose Bücher