Giftiges Grün
nicht!«
Lina hielt auf der Landstraße hinter dem Dorfschild von Buchfinkenschlag. Sie stiegen aus und blickten durch das mit Kette und Vorhängeschloss verrammelte Gittertor zur Villa auf der Anhöhe, die hohläugig und verlassen wirkte. Aller Aufsicht ledig, hatten die Eiben neben der Treppe ihren Formschnitt gesprengt und standen nun wie schwarze Gewitterwolken vor der Fassade. Auch die Löwen auf den steinernen Torpfosten hatten ihren angestammten Platz verlassen. Nur eine halbe Pfote war im Zementsockel stecken geblieben. Das Schild einer Wach- und Schließgesellschaft, die ihre Bemühungen offenbar schon vor Jahren eingestellt hatte, verbot den Zutritt. Dahinter stand das gelbe Gras hüfthoch. Plastikfetzen, Bierdosen, Glassplitter und das Gestänge einer Kinderkarre in der überwucherten Auffahrt deuteten jedoch darauf hin, dass man sich durchaus Zutritt verschafft und seinen Dreck mit Fleiß abgeladen hatte. Sie standen eine Weile und starrten auf das Haus.
»Ich hab’s geahnt«, sagte Berta schließlich. »Sie ist weg. Vielleicht im Altersheim?«
»Aber nicht erst seit gestern. Es ist ja alles völlig verwildert und verkommen.«
»Wie ärgerlich! Was machen wir jetzt?«
»Na, reingehen«, sagte Lina. »Kannst du klettern?« Ihre Mutter blickte sie empört an.
»Für wen hältst du mich? Ich bin vielleicht nicht mehr die Jüngste, aber durchaus in der Lage, unerlaubt ein fremdes Grundstück zu betreten. Geh du mal voran!«
Sie wanderten ein Stück die Landstraße zurück, die Sandsteinmauer immer im Blick, bis sich ein Trampelpfad zwischen Klettkraut und Brennnesseln öffnete, der nach wenigen Schritten vor einer Lücke und einer Geröllhalde endete. Hier hatte offenbar jemand Sandsteinquader abgebaut, die dann denselben Weg wie die Löwen auf dem Tor gegangen waren. Lina kraxelte hinauf und reichte ihrer Mutter die Hand. Als sie auf der anderen Seite wieder festen Boden unter den Füßen hatten, waren beide außer Atem und blitzten sich unternehmungslustig an. Berta Weil übernahm die Führung.
»Mir nach, Watson«, sagte sie, »wir verfügen uns jetzt zum Tatort«, hob die Arme über das aufgeschossene Kraut und begann rudernd den Hügel hinaufzuwaten.
»Anthriscus sylvestris?«, fragte Lina.
»Unfug«, erwiderte Berta über die Schulter, »Galium aparine, Urtica. Pass auf, Rubus-Fußangeln und Heracleum giganteum – nicht anfassen, davon kriegst du Ausschlag.«
Lina raffte die Schöße ihres langen Mantels und folgte ihrer Mutter. Sie erreichten die abgesackten Steinstufen der Freitreppe und tasteten sich zur Terrasse hinauf. Oben drehte sich Berta Weil um und blickte zum Tor.
»Oh, die Paulownia ist weg.«
Lina ging weiter durch den gähnenden Türrahmen in die Vorhalle, und obwohl sie sich gewappnet hatte, den Ort verändert vorzufinden, traf die Verwüstung sie ins Herz. Vandalen hatten mit schwerem Gerät auf die Marmortreppe und das eiserne Geländer eingeschlagen, die bunten Scheiben zertrümmert, Feuer an das hölzerne Maßwerk der Spitzbogenfenster gelegt. Ein wilder Wein schlängelte sich von außen herein und schob Ranken über die Treppe, Vorboten einer Invasion, der das Haus unterliegen würde. Sie suchte den Weg ins Frühstückszimmer. Durch die Decke und den bunten Stuckkranz aus Blumen und Früchten hatte sich der Fußboden des oberen Stockwerks erbrochen. Lina ging zu ihrer Mutter zurück, die noch immer von der Terrasse aus die Umgebung musterte.
Hier hatten an dem schicksalhaften Abend Lampions im Luftzug geschaukelt. Windlichter flackerten auf der Balustrade. Die Köchin in Weiß präsidierte hinter dem Buffet, und ein großer Junge, der sonst eine Gärtnerschürze trug, ging mit einem Tablett herum und bot den Gästen kalten Weißwein in grünstieligen Gläsern an. Onkel Heinrich legte Platten auf. Welche Musik mochte er? Doch hoffentlich nicht nur das Jägerlied vom harten Mann im wilden Forst. Vielleicht ein bisschen klassischen Jazz? Man tanzte eng. Rose in Heinrichs Arm in einem schwarzen Seidenkleid mit Klatschmohnblüten. Round midnight , der Klang des Saxophons zog wie eine dünne Rauchfahne in die Nacht. Ein junges Mädchen hatte sich umgedreht und war gegangen. Niemand wollte es bemerkt haben. Sie hatte höchstens ein halbes Glas Wein getrunken. War sie allein und traurig? War ihr jemand gefolgt? Wen hatte sie vor ihrem Tod umarmt? Für wen das Kleid ausgezogen, da sie ja nicht schwimmen gehen wollte? Lina konnte es nicht mehr ertragen.
»Komm, wir gehen,
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