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Giftiges Grün

Giftiges Grün

Titel: Giftiges Grün Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elsemarie Maletzke
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Vorfreude durchströmen. Dann stieg er auf den Turm. Doch anders als Goethe, der wohlgefällig auf die weitumherliegenden, mit herrlichen dichten Bäumen besetzten und durchflochtenen Auen des Rheins geblickt hatte, sah Karl nichts als Dächer, Steine und Asphalt.
    In den Buchhandlungen der Altstadt stöberte er zwei Stunden herum, kaufte in einer Drogerie eine Zahnbürste, besichtigte das Palais Rohan und suchte sich dann ein billiges Hotel. Am Abend aß er Sauerkraut und trank Riesling und nachdem er sich auf dem Zimmer einen Pornofilm angeschaut hatte, ging er hoch zufrieden schlafen.

    Nach dreißig Jahren war es Rose Bruant gelungen, sich von ihrem Ehemann zu befreien. Alphonse, der kein Nein für ein Nein nahm, musste schließlich doch vor den gesetzlichen Bestimmungen kapitulieren, und die Scheidung wurde abgewickelt. Gleichwohl war ihre Trennung nicht so eindeutig, dass sie ihm auch die Führung ihrer Geschäfte entzogen hätte, und als sie glaubte, allmählich alt genug zu sein, um über das Schicksal von Buchfinkenschlag zu entscheiden, hatte sie seine Dienste als Immobilienmakler in Anspruch genommen. Sie sollte es schnell bereuen. Alphonse hatte ihr eine Reihe von zutiefst unseriösen und völlig unerwünschten Gestalten zugeführt, denen sie ihr liebes, ramponiertes Buchfinkenschlag auf keinen Fall überlassen würde, und das geschäftliche Verhältnis zwischen ihnen hatte sich ebenfalls getrübt.
    Sie wohnte inzwischen mehr in der Vergangenheit als am Quai St. Thomas und nachdem ihr Maître Migeot das Testament vorgelesen hatte, saß sie tagelang am Fenster, schaute auf die Kronen der Bäume entlang der Ill und war in einen Wachtraum geglitten, in dem sie die Freitreppe hinabschritt und Henri ihr in Breeches und mit einem kecken Jägerhut entgegeneilte. Erstaunlich, was eine militärisch geschnittene Lodenjacke aus Männerschultern machte. Sie erkannte ihr Haus an seinem Geruch nach Möbelwachs und frischen Blumen wieder. Rosen, Phlox, Madonnenlilien. Nun stand sie auf der Terrasse und schaute zum Tor, durch die lange Flucht der Eiben und sah Henri, der dort mit einem kleinen Mädchen an der Hand auf sie zukam. Das Linchen.
    Es gab etwas, das sie ihm nie verzeihen konnte und das nun in Gestalt von Alphonses Tochter durch die Tür trat, dieses schlimme Kind, das so sehr nach seinem Vater geschlagen war. Nur auf sein Drängen hatte sie ihm ein Heim geboten, oder das, was Alphonse glaubte, dem mutterlosen Mädchen schuldig zu sein. Als es mit einer Art Reisesack über der Schulter in Buchfinkenschlag einzog, wusste sie, dass es mit dem empfindlichen Gleichgewicht zwischen ihr, Henri und Alphonse vorbei war. Es dauerte nicht lange und Marion hatte Henri und sie entzweit, ihn auf ihre Seite gezogen, ihre kokette, fröhliche Seite, die sie nur ihm zeigte, bis auch er sie drängte, das verlassene Kind anzunehmen – es zu lieben!
    Aber Marion war kein Kind mehr und auch kein nettes junges Mädchen. Rose hatte ihrerseits nicht lange gebraucht, um zu bemerken, dass sie eine notorische Diebin war. Sie stahl kleine Dinge: die Taschenuhr ihres Großvaters, eine Meissner Figurine, zwei silberne Schöpflöffel, ihre Ohrringe mit den Rubinen. Sie stahl mit der Einfalt jener, die glauben, ihre Besitzer würden den Verlust nicht bemerken, weil so viel anderes noch da war. Jedes Mal, wenn Marion mit Alphonse oder Henri in die Stadt gefahren war, fehlte wieder etwas. Den Meissner »Komödiant mit Laute« bekam Rose von einem Antiquitätenhändler zurück, bei dem sie gelegentlich kaufte. Er hatte der dummen Gans fünfzig Mark dafür gegeben. Die Figurine war das Zehnfache wert. Sie hatte sie stillschweigend an ihren Platz zurückgestellt und Marions Taschengeld erhöht. Zwei Wochen später vermisste sie ihre Geldbörse, und als sie zwischen den Sofakissen wieder auftauchte, fehlten die großen Scheine.
    Rose hielt Marions kriminelle Energie und ihre Launen, diese singende Heiterkeit, diese zappelige Wut, das blitzende Lächeln und die tiefe Apathie für die Symptome einer Geisteskrankheit. Sie verstand das Zittern in der Sonne und den Schweiß in der Kälte nicht. Sie sah Marion an den Türrahmen ihres Zimmers gelehnt, langsam hinabrutschen, sich wie eine Schlafwandlerin wieder aufrichten und wieder rutschen, unansprechbar, lallend. Henri tat ihr Entsetzen mit einer Handbewegung ab, die sie zu verabscheuen lernte. Das kleine Fräulein hatte gestern Abend wohl zu tief ins Glas geguckt. Der Kater würde ihr eine Lehre

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