Giftiges Grün
sein. Was knabberte sie da an ihrem Toast? Greif zu, Marion! Hier sind Eier und Speck und Pilze. Marion war vom Frühstückstisch aufgesprungen und weggerannt. Mädchen und ihre Grillen! Henri fand das zum Schießen.
Aber Rose glaubte ihm sein Gelächter nicht. Sie hatte angefangen, ihn zu beobachten, wenn Marion in der Nähe war. Wie gern er ihr gefallen wollte. Wie einvernehmlich er zu ihren Frechheiten schwieg. Zog es ihn nicht auch immer dann in den Park, wenn sie sich am Schwimmbecken sonnte? War er es nicht, der immer neue Gründe fand, warum Marion nicht wieder zur Schule gehen, sondern in Buchfinkenschlag bleiben sollte? Närrisches, eifersüchtiges Röslein? Er lachte über sie, und es tat weh. Wie konnte sie dieses Geschöpf lieben! Aber immer, wenn sie daran dachte, wie Henri für Marion gesprochen hatte, begann ihr Herz schwerer zu schlagen.
Rose wandte nicht den Kopf, als die Pflegerin eintrat und den Tee brachte. Sie wartete, bis sie das Tablett auf dem kleinen Tisch neben ihrem rechten Ellenbogen abgesetzt hatte, achtete darauf, dass die Milch vor dem Tee eingegossen wurde und ließ sich einen Löffel Zucker hineinrühren. Sie bestand auf ihren dünnen Tassen mit den Chinarosen und auch, dass Zerbrochenes ersetzt wurde. Die Dinge in Ordnung zu halten, bedeutete, dass das Leben weiterging. Es war ihre Vorlesestunde. Die junge Frau zog den Stuhl an ihre Seite und schlug die Zeitung auf. Sie hatte eine hohe, leiernde Stimme, als stünde sie kurz davor, in Tränen auszubrechen.
»Sie müssen nicht schreien, Agnes, ich höre ausgezeichnet«, sagte Rose und kehrte nach Buchfinkenschlag zurück. Das Schlimmste war nicht, dass Henri von Marion behext war und versucht hatte, ihr Gewalt anzutun. Das Schlimmste war, dass sie es nicht verhindert hatte. Sie hatte Alphonses Kind nicht geliebt und beschützt, wie sie ein eigenes Kind geliebt und beschützt hätte. Sie hatte Marion nicht vor sich selbst retten können. Sie hatte sie sterben lassen. Die Abscheu vor Henri, dessen Niedertracht und lüsterne Gewalt Marion in den Tod getrieben hatten, war eigentlich auf sie, auf ihr kaltes Herz gerichtet.
Hätte sie etwas tun können in dieser Nacht, als ihre Gäste durch den Park liefen und nach Marion riefen? Sie hätte darauf bestehen sollen, dass sie weiter suchten! Stattdessen hatte sie Marie angewiesen, mit dem Aufräumen zu beginnen zum Zeichen, dass das Fest beendet sei und alle nach Hause fahren oder ins Bett gehen sollten. Sie hatte die Fassung gewahrt, nachdem Marion schreiend die Turmtreppe heruntergestürzt kam, aber mit ihrem Verschwinden war das Maß voll. Mochte sie nun bei Alphonse Unterschlupf suchen. Sie konnte keinen Menschen mehr um sich ertragen; am wenigsten Henri, der noch einmal aufgebrochen war, um die Landstraße abzugehen, Henri, der Stunden zuvor über Marion hergefallen war. Sie hatte ihre Tür verriegelt, zwei Valium genommen und sich hingelegt. Das Nächste, woran sie sich erinnerte, war Johann, der halb ertrunken in der Terrassentür stand.
Henri hatte ihr zwei Briefe von seiner neuen Adresse in dieser gewöhnlichen kleinen Stadt geschickt. Sie hatte sie ungeöffnet retourniert. Wenn er vielleicht etwas hartnäckiger und weniger stolz gewesen wäre … Und nun schrieb er ihr in seinem letzten Brief, den sie nicht zurückschicken konnte, dass nicht er die Schuld trage, sondern ein ruchloser Verbrecher, der auch sein Leben zerstört habe. Doch im Grunde hatte er selbst damit begonnen.
Rose sah noch ein anderes Bild vor sich. Die Bücherschränke ihres Großvaters und hinter den Glastüren die Lederrücken der alten Pflanzenbücher, in denen Kalenderzettel als Lesezeichen steckten. Darauf hatte sie Henris kleine Schrift entziffert, in der er die Rezeptur für Tollkirschensud, Alraunentee, Bilsenkrautextrakt und Stechapfeltinktur in geläufige Maße übertragen hatte.
Sie hatte ihn zur Rede gestellt und er hatte sich zungenfertig verteidigt. Nein, aufrichtig war er nicht, und natürlich war es Bruant, der damit angefangen hatte, seine kleinen botanischen Experimente auszubeuten. Ja, es gab Menschen, die diese Sachen kauften. Nein, es sei ganz ungefährlich und völlig legal, reine Natur, etwa wie Schnupftabak, und der kleine Johann sei ein tüchtiger Apotheker. Sie müsse sich da überhaupt keine Sorgen machen. So hatte sie stillgehalten, nicht überzeugt, aber besänftigt, angelächelt, geküsst. Doch ihre Zweifel waren geblieben, hatten wie ein lebendiges Samenkorn in einer harten
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