Giftkuss
es morgen beheben würde. Es störte sie. Ansonsten war sie zufrieden. Im ganzen Raum war kein Kalk- oder Blutfleck mehr zu sehen, sie hatte gute Arbeit geleistet – wie immer.
Sie betrat den Saal erst, nachdem sie ihre Schuhsohlen auf Schmutz untersucht hatte, nahm dann ihren Rucksack vom Haken, schob einen Stuhl vor einen der Schreibtische an der Wand und setzte sich. Anschließend holte sie ihre Thermoskanne aus dem Rucksack und schraubte den Deckel ab. Dann goss sie sich Kaffee ein – vorsichtig, um ja keine Spuren zu hinterlassen. Schließlich wickelte sie ihr Leberwurstbrot aus und lehnte sich zurück. Erst trank sie einen Schluck Kaffee, dann biss sie in ihr Wurstbrot.
Dieses Geräusch, als Anja die Treppe runtergefallen ist. Dumpf war es, erstaunlich dumpf.
Sie atmete dreimal tief durch. Warum saß sie eigentlich noch hier? Zu den Toten konnte sie heute auf keinen Fall. Das würde sie gar nicht aushalten. Als sie den Kaffeebecher zum Mund führte, merkte sie, wie sie zitterte. Andererseits – nach Hause konnte sie auch nicht. In allen Ecken würde dort die Erinnerung lauern.
Und was, wenn Anja schon vor der Beerdigung entdeckt würde? Womöglich würde sie dann heute noch eingeliefert. Katharina sah durch das Souterrainfenster auf den erleuchteten Haupteingang. Draußen war alles ruhig. Im Erdgeschoss des Instituts waren die Fenster dunkel. Nur im Ruheraum der diensthabenden Ärztin im ersten Stock leuchtete die Deckenlampe. Ihr Licht vermischte sich mit dem blauen Flackern der Überwachungsmonitore.
Die Kamera des Seziersaals hing unter der Decke und Frau Dr. Klinkenberg beobachtete Katharina vielleicht in diesem Moment. Das störte sie nicht weiter, denn sie hatten ein gutes Verhältnis. Die Ärztin duldete Katharinas Brotzeiten und Leserituale. Einmal hatte sie sogar zu ihr gesagt: »Gute Arbeit braucht geruhsame Pausen.«
Von ihren Besuchen im Kühlraum durfte die Klinkenberg allerdings nie etwas erfahren. Die waren nur möglich, wenn die Ärztin arbeiten musste. In schwülen Nächten wie diesen waren die Verbrecher besonders aktiv. Eigentlich war es ein guter Tag für einen Besuch bei den Toten. Aber zum ersten Mal hatte sie Angst davor.
Ihr Mund war trotz des Kaffees so trocken, dass sie das Leberwurstbrot nicht runterkriegte. Wie ein Lehmklumpen lag es in ihrem Mund. Sie versuchte, möglichst ruhig durch die Nase zu atmen.
Warum hat Anja auch diese verdammten Schuhe angehabt? Drei Millimeter, höchstens vier, und sie hätte das Geländer noch erwischt.
Katharinas Herz raste und sie bekam keine Luft mehr. Sie sprang auf, rannte zum Mülleimer in der hintersten Ecke und spuckte den Wurstbrotklumpen hinein. Eine Weile blieb sie noch über den Eimer gebeugt stehen und atmete kräftig durch. Dann klaubte sie den Brocken wieder heraus, ging durch den riesigen Saal zurück zu ihrem Platz und steckte ihn in die Brotdose. Sie packte ihre Sachen zurück in den Rucksack. Obwohl sie keinerlei Spuren hinterlassen hatte, schnappte sie sich den Putzlappen, der immer griffbereit an einem Haken ihres Gürtels hing, und wischte über den Tisch. Nur das Klicken der kaputten Neonröhre und der tiefe Brummton des Reservaten-Kühlschranks waren zu hören.
In diesem Moment vernahm sie das Knirschen der Kieselsteine. Sie hörte sofort am Geräusch, dass das nicht der Leichenwagen war. Anja konnte es also noch nicht sein. Sie atmete auf. Kurz darauf sah sie das Polizeiauto vorfahren. Vor dem Eingang hielt es und zwei Beamte stiegen aus. Katharina kannte beide, vor allem den Kleinen, den sie wegen seiner Grobheit nicht leiden konnte.
Die Polizisten holten zwei hagere Männer aus dem Fond und führten sie in Handschellen die Treppe hinauf. Dabei zerrte der kleine Beamte am Ellenbogen seines Gefangenen, obwohl der völlig friedlich neben ihm herlief. An ihrer abgewetzten Kleidung und dem leicht geduckten Gang erkannte Katharina, dass es sich bei den Verbrechern lediglich um zwei Säufer handelte, die schnell zu Geld hatten kommen wollen oder Ähnliches. Für eine Schlägerei waren sie zu unversehrt und für ein größeres Verbrechen zu harmlos. Mittlerweile hatte sie so viel Erfahrung, dass sie mit ihrer ersten Einschätzung meist richtig lag.
Wie absurd eigentlich. Ob ich in mir sofort eine Mörderin sehen würde?
Mörderin. Das klang absurd. Mörderin. Mörderin. Je öfter sie das Wort dachte, umso beängstigender erschien ihr alles. Sie fragte sich, ob sie auch von dieser Unruhe geplagt worden wäre, wenn nicht
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