Giftkuss
gesessen, vertieft in den Musical-Probenplan, und Anja hatte plötzlich in ihrem Zimmer gestanden und etwas von einer Entdeckung auf dem Dachboden erzählt. Ihr Stiefvater hätte gelogen oder so was. Cleo sah Anja jetzt genau vor sich, mit ihrem grünen Tagebuch und Fotos in der Hand. Cleo hatte aber zu diesem Zeitpunkt überhaupt keinen Nerv, sich Psychokram anzuhören. Sie hatte Anja regelrecht abserviert und etwas gemurmelt wie: »Muss das jetzt sein?«
Anja war daraufhin sofort gegangen. Das hatte sie noch nie getan. Am Abend kam dann noch diese SMS und Cleo hatte sich vor dem Einschlafen fest vorgenommen, sie gleich am nächsten Morgen darauf anzusprechen. Sie erinnerte sich jetzt genau. Und auch daran, dass sie das mal wieder vergessen hatte. Mist! Sie versuchte, ihr schlechtes Gewissen zu ignorieren, das konnte sie jetzt nicht gebrauchen. Und überhaupt: Wenn einer heute ein schlechtes Gewissen haben musste, dann ja wohl Anja.
Cleo rief ihre gemeinsamen Freundinnen und Freunde an. Miri hob nicht ab, Ela hatte gestern überhaupt niemanden gesehen, weil sie krank im Bett lag, und Lara hatte keine Ahnung, wo Anja sein konnte. Kurz zögerte Cleo, auch die Jungs anzurufen. Sie wusste, dass Anja das unangenehm wäre. Die Sache mit den Jungs war hochkompliziert. Die konnte man nicht einfach mal anrufen. Das musste gut überlegt sein. Für Robert schwärmte Anja, mit Ben hatte sie Schluss gemacht und Timo lief seit Jahren hinter ihr her. Trotzdem rief Cleo alle drei an, allerdings ohne Erfolg. Niemand hatte Anja gesehen und alle hatten sie gestern im Club vermisst.
Langsam beschlich Cleo die Angst, dass etwas passiert sein könnte. Sie ließ sich aufs Sofa fallen und starrte auf ihr stummes Handy, als könnte sie auf diese Weise Anja zwingen, sich zu melden. Kurz überlegte sie, ob sie noch mal bei ihr zu Hause anrufen und mit der Mutter sprechen sollte, entschied sich aber dagegen. Stattdessen zog sie sich an und machte sich auf den Weg zu den Diekamps. Vielleicht würde sie ja in Anjas Zimmer einen Hinweis finden, irgendwo musste sie schließlich sein…
5. Kapitel
In dem geschlossenen Heim war der Nassschrubber nicht elektrisch und Katharina musste seine Fransen immer wieder aufs Neue ins Wasser tauchen, auswringen und damit den Boden befeuchten. Sie hatte das Gefühl, auf diese Weise den Dreck eher gleichmäßig zu verteilen, und ihr Reinlichkeitsgefühl am Ende der Schicht war immer nur halb so beglückend wie im gerichtsmedizinischen Institut. Doch im Moment war ihr jede Ablenkung recht.
Langsam wischte sie die langen Gänge. Sie hatte viel mehr Zeit als üblich. Normalerweise fuhr sie zwischen den Schichten nach Hause, doch heute konnte sie nicht, hatte Angst vor den Bildern und war einfach über Nacht in Gießen geblieben. Sechs Stunden war sie zu Fuß ziellos unterwegs gewesen, während alle anderen schliefen. Das Laufen hatte ihr gutgetan, doch nun steckte ihr die durchwachte Nacht in den Knochen.
Trotzdem hatte sie bereits um kurz vor sechs mit der Arbeit angefangen. Leise und unauffällig, damit sie die Bewohner nicht aufweckte. Eintauchen, auswringen, wischen – nach rechts, im Bogen nach links, einen Schritt vor, wieder nach rechts. Die Bewegungen hielten die Bilder auf Abstand. Wenn sie einfach weitermachte, konnte ihr nichts passieren.
Gegen 7 Uhr kam langsam Leben in die Gänge. Die Schwestern der Frühschicht lösten die Nachtschwestern ab, die ersten Bewohner verließen ihre Zimmer. Herr Welters aus der 14 lief schweigend neben ihr her. Sie mochte ihn sehr.
»Guten Morgen, Katharina«, rief Schwester Barbara, die frisch und ausgeruht ihre Schicht begann. »Alles gut heute?«
»Ja.«
»Und Sie, Herr Welters, belästigen Sie unsere Katharina wieder?« Schwester Barbara zwinkerte schelmisch, sie meinte es nicht so. »Gehen Sie in Ihr Zimmer und ziehen Sie sich an. Gleich gibt es Frühstück.«
Damit verschwand sie im Schwesternzimmer. Herr Welters grunzte und blieb stehen.
»Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag, Herr Welters«, sagte Katharina.
»Das wünsche ich Ihnen auch, Frau Katharina. Ich liebe Sie.«
Katharina lächelte. Jeden Morgen dieselben Worte. Alles war wie immer, alles war gut.
Inzwischen war es genau 7 Uhr, die beste Zeit für Zimmer 10. Die Schwestern waren mit der Ablösung und dem Frühstück beschäftigt, deshalb konnte sie ein paar Minuten ihr Lieblingsritual abhalten. Sie brachte den Schrubber und den Eimer zurück in die kleine Putzkammer und lief den Gang
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