Giftpilz
weißen Decke mehr als sonst zu wölben schien.
»Herr … Wir schicken Sie zu einer Anschlussheilbehandlung in eine
psychosomatische Klinik. Sie werden sehen: Das wird Ihnen guttun.«
4. NORDIC WALKING
»Und beim Schwung nach hinten die Hand öffnen!«
Hubertus kämpfte verzweifelt mit seinen Nordic-Walking-Stöcken, um
den Anordnungen der Sportlehrerin Folge zu leisten.
»Kein Problem, Hubertus – das wird schon noch.«
Hummel nickte mit zusammengebissenen Zähnen und schaute sich dann
ängstlich um, ob ihn beim Marsch durch den Ort jemand erkannte. Nicht einmal
zwanzig Kilometer war Königsfeld von Villingen entfernt – die Gefahr daher
latent. Und dass einer seiner Schüler ihn dabei beobachtete, wie er im
Gänsemarsch mit anderen Rehawalkern durch das Örtchen tölpelte – das musste nun
wirklich nicht sein.
Ohnehin gab es genügend Gerüchte, nachdem er krankgeschrieben worden
und deshalb nicht mehr im Romäus-Gymnasium aufgetaucht war. Seine Freundin Carolin,
die an derselben Schule unterrichtete, hatte ihm alles haarklein erzählt. Die
einen Schüler hatten etwas von einem Selbstmordversuch zu berichten gewusst, wegen
dem »der Hummel« längere Zeit nicht mehr kommen würde. »Der muss jetzt erst mal
in die Klapse.«
Andere, unter ihnen sogar Kollegen, hatten kolportiert, Hubertus
werde an eine andere Schule versetzt, weil die unbotmäßige außereheliche
Beziehung mit Carolin nun bis zum Schulamt gedrungen sei. Hier war Pergel-Bülow
wieder einmal in die Bresche gesprungen und hatte die Sache klargestellt. Im
Lehrer- ebenso wie im Klassenzimmer. Zum Thema Zivilcourage hatte er im Gemeinschaftskundeunterricht – in aller Bescheidenheit – die Rettung des Nachbarn und Kollegen in epischer
Breite behandelt, freilich ohne sich selbst übermäßig ins Rampenlicht zu
stellen – das war zumindest seine Auffassung.
Lustlos schlurfte Hubertus in der halbwegs unauffälligen Mitte der
Truppe durch die Straßen in Richtung Königsfelder Kurpark – neugierig und
mitunter auch leicht spöttisch begafft von einigen Passanten. Dabei war
Königsfeld einer der wichtigsten Kurorte im Schwarzwald, weshalb solche Szenen
eigentlich nichts Besonderes waren.
»Stöcke nicht zu weit vorne aufsetzen«, mahnte ihn die
durchtrainierte Blondine, die die Gruppe beaufsichtigte. Allmählich verließ
Hubertus jeglicher Mut. Der Reißverschluss seines bestimmt fünfzehn Jahre alten
Trainingsanzugs spannte noch mehr als zu Beginn der anderthalbstündigen Tortur,
die mit einer theoretischen Einweisung begonnen hatte.
Das mit dem Trainingsanzug würde sich in nächster Zeit allerdings
wohl ändern, denn die Schufte hatten ihn auf eintausendvierhundert Kalorien am
Tag gesetzt.
»Hän ihr d’ Schi underwegs verlore?«, spottete ein älterer Mann.
Hubertus kramte nach einer schlagfertigen Antwort, in der das Alter des
Spötters Hauptbestandteil gewesen wäre, ließ sich aber vom beschwichtigenden
Blick der Sportlehrerin davon abbringen.
»Sich hier zum Idioten zu machen und ausgelacht zu werden ist aber
auch nicht im Sinn einer psychosomatischen Reha, oder?«, beschwerte sich der
hagere Mann, der hinter Hubertus lief.
»Das ist alles eine Frage des Selbstbewusstseins«, antwortete
Birgit, die Walkinglehrerin. »So toll, wie ihr das schon macht, habt ihr auch
allerlei Grund dazu. Sehr gut, Hubertus. Prima, Dietrich.«
»Hoffentlich haben wir’s dann bald«, knurrte Dietrich, dessen
hervorstechendstes Merkmal neben seiner Gesichtsblässe und seinem Reizhusten
eine Narbe am Kinn war. Dabei hatte er nur eine ganz kleine Runde mitgedreht –
fünf Minuten maximal. Eine Aktion des guten Willens sozusagen.
»Bringt ja doch nichts«, meinte Narben-Dietrich, wie Hubertus ihn
getauft hatte. Kurzatmig kroch der Mittfünfziger am Ende des Feldes hinterher
und wirkte noch weniger ambitioniert als Hubertus. Der schloss ihn deshalb
gleich ins Herz.
»Optimismus! Optimismus!«, krähte die immerfröhliche Anführerin.
»Bei mir ging’s am Anfang deutlich schlechter als bei euch jetzt. Und jetzt hat
eure Birgit eine Nordic-Walking-Schule.«
Fast alle duzten sich. Die Physiotherapeuten und Sportlehrerinnen,
die Massagefraktion und die Patienten. Ärzte wurden hingegen gesiezt. Hubertus
mochte es nicht, mit Wildfremden per Du zu sein. In der Villinger Narrozunft mochte
das noch eher angehen als hier, wo die einzige Gemeinsamkeit ein ähnliches
Leiden war.
Hubertus hatte eine »Anschlussheilbehandlung« von zunächst drei
Wochen
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