Giftweizen
kurz, ob sie Hella Singer jetzt mit Jenny Holl anreden sollte, doch im selben Moment schämte sie sich ihrer gemeinen Gedanken, denn ihr war klar, dass Jenny Holl damals, 1957, aufgehört hatte zu existieren. Es bestand kein Anlass für unnötige Schikanen.
Es klopfte an ihrer nur angelehnten Tür.
Dr. Grede würde sie bei den Verhören unterstützen und kam, um sie abzuholen.
Sie war froh, ihn wieder dabei zu haben.
Um seine Chefin nicht zu drängen, setzte er sich an den Besprechungstisch und legte seine Unterlagen ab. Obenauf lag ein kleiner Notizblock. Er hatte sich die im Ermittlungsraum verfügbaren Eckdaten zu Eduard Singer notiert, wobei das auch nicht viel mehr war, als sie über dessen Ehefrau wussten: Jahrgang 1915, Chemiestudium gemeinsam mit Paul Ahlsens, Lehrer, verheiratet mit Hella Singer. »Ob sich die beiden überhaupt amtlich trauen ließen?«, fragte er mehr für sich.
Sie würden es gleich erfahren.
~ 61 ~
Im Verhörraum war es angenehm warm und jemand hatte eine Flasche Wasser und mehrere Gläser bereitgestellt. Hella Singer hatte sich nicht bedient. Sie saß ruhig auf ihrem Stuhl an der Stirnseite eines schmalen Tisches, schien aber erleichtert, dass jemand den Raum betrat.
Judith Brunner stellte ihr Dr. Grede nochmals offiziell vor und deutete auf die unbenutzten Wassergläser. »Möchten Sie lieber einen Kaffee?«
Dankend lehnte Hella Singer auch dieses Angebot ab.
Die Ermittler nahmen an beiden Seiten des Tisches Platz und Dr. Grede legte seine Mappe mit Fotografien und Laborberichten vor sich auf den Tisch.
»Es tut mir leid, dass wir dieses Gespräch führen müssen.« Mit dieser ehrlichen Bemerkung begann Judith Brunner die Vernehmung, noch bevor das Tonbandgerät eingeschaltet war.
»Mir auch«, gab Hella Singer unumwunden zu, eine Frau, die gemordet hatte, planvoll und raffiniert.
Judith Brunner betätigte die Starttaste des Aufnahmegerätes und sagte die notwendigen Sätze zu Datum, Uhrzeit, Delikt und anwesenden Personen.
Dann fragte sie ruhig und interessiert: »Frau Singer, was ist geschehen?«
Das überraschte die zierliche Frau offenbar, denn sie rang sichtbar um Fassung.
Womit hatte sie gerechnet, fragte sich Judith. Dass ich sie anschreie oder ihr Vorwürfe mache? Wozu sollte das gut sein? Allerdings kannte Judith hinlänglich die schauspielerischen Fähigkeiten von Hella Singer und war auf der Hut. Sie wartete.
»Zu viel ... Zu viel Schlimmes ist passiert.« Mehr kam nicht.
Judith Brunner bat nach einem kleinen Moment: »Erklären Sie uns das. Und etwas ausführlicher bitte.«
Hella Singer blickte ihr noch unentschlossen ins Gesicht. Es sah so aus, als wisse sie nicht recht, womit sie anfangen sollte oder als suche sie nach einer geeigneten Formulierung. Dann sagte sie: »Es gibt Gründe für das, was geschehen ist.«
»Davon gehe ich aus. Ich muss jedoch genau wissen, was Sie getan haben und warum. Sie sind hier, weil Sie schwerer Verbrechen verdächtig sind. Das habe ich Ihnen bereits bei Ihrer Verhaftung in Waldau mitgeteilt. Ich möchte von Ihnen hören, wie alles geschah.«
Doch Judith Brunners eindringlicher Appell führte nicht dazu, dass Hella Singer sich erklärte. Nun schüttelte sie – wieder in sich gekehrt – nur den Kopf.
Dr. Grede schenkte von dem Wasser ein, auf eine Reaktion hoffend; ungeachtet dessen war die Frau nicht bereit zu reden.
Judith Brunner sah ihren Kollegen fragend an, der nickte unauffällig zurück, und so konfrontierte sie die Verdächtige ohne Vorwarnung mit ihrer Vermutung: »Frau Singer, wir gehen mit Gewissheit davon aus, dass Sie die vermisste Jenny Holl sind. Was sagen Sie dazu?«
Der Schreck hätte größer nicht sein können! Hella Singer entfuhr ein ängstlicher Laut, das Blut wich ihr aus dem Kopf und ihre Hände verkrampften sich.
Allein diese Reaktionen bestätigte Judith Brunner, dass ihre Hypothese tatsächlich zutraf.
Plötzlich liefen Tränen über Hella Singers Gesicht.
Judith Brunner reichte der Frau ein Papiertaschentuch, das mit zitternder Hand genommen wurde. »Wir haben uns mit jemandem unterhalten, der die Geschichte von damals kannte«, versuchte sie so taktvoll wie möglich auf die Vergewaltigung zu sprechen zu kommen.
Erstaunt fragte Hella Singer leise zurück: »Wer weiß denn heute noch davon?«
»Das darf ich Ihnen nicht sagen, doch wir gehen davon aus, dass in diesem Verbrechen die Ursache für Ihre heutigen Morde liegt.« Konkreter durfte Judith Brunner nicht werden, ohne der Verdächtigen zu viel zu
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