Giftweizen
am Empfang zu übersehen. Judith Brunner ahnte die kommende Herausforderung – und richtig, er gab ihr einen Zettel in die Hand, wie stets mehrfach gefaltet und mit penibler Steinscher Handschrift an die Hauptkommissarin adressiert.
»Vielen Dank.« Judith las für Walter laut vor: »Herz alles, Lunge auch.«
Der konnte sich das Lachen kaum verkneifen.
Stein blieb völlig ernst. Stolz betonte er: »Ich habe keine Abkürzungen benutzt.«
»Richtig«, bestätigte Judith. »Was hat der Anrufer denn gewollt?«
»Er wollte Sie sprechen. Ich habe ihm gesagt, dass Sie außer Haus sind, und da hat er gesagt, er kommt am späten Vormittag selbst vorbei.«
»Schön. Haben Sie sich den Namen des Anrufers gemerkt?«
»Ja. Es war derselbe wie neulich.«
»Und? Der war ...?«
Doch Stein schien ratlos. Ihm fiel kein Name ein. Zögerlich fragte er: »Sie wissen den auch nicht mehr?«
Wenn Blicke degradieren könnten, stände jetzt ein Unterwachtmeister vor Judith Brunner. Nun konnte sie nur vermuten, dass Dr. Renz der Anrufer war, der ihr bezüglich der Leichen etwas hatte mitteilen wollen. Sollte sie Karl-Horst Stein noch größere Vorhaltungen machen oder musste sie vor seiner Einfalt endgültig kapitulieren? »Doch, ich kann erahnen, wen Sie meinen. Aber es wäre besser, Sie schreiben sich den Namen das nächste Mal auf, genau so, wie wir es besprochen haben. Es kann ja sein, ich vergesse auch mal etwas, und dann wäre ein Hinweis von Ihnen sehr nützlich.«
Die Aussicht, der Hauptkommissarin hilfreich zur Seite stehen zu können, beflügelte Wachtmeister Steins Arbeitseifer und er machte sich augenblicklich irgendwelche Notizen.
Judith Brunner wollte gar nicht wissen, was er sich da aufschrieb. Urplötzlich lachte sie laut auf und reichte den Zettel zurück. »Wachtmeister Stein, sind Sie sicher, dass dieser Zettel mich erreichen sollte? Ist das nicht eher die Bestellung eines Kollegen für das Wochenende?«
Stein wurde knallrot, als er realisierte, was er da geschrieben sah. »Oh. Ähm, das ist für den Pieske seinen Hund. Der hat angerufen. Also der Pieske, nicht der Hund. Der will immer die ... Na, ja. Sie haben recht.«
Stein blickte so niedergeschlagen, dass Judith Brunner große Mühe hatte, wieder ernst zu werden. »Das kann ja mal passieren«, war sie nachsichtig.
Dankbar erlaubte sich Wachtmeister Stein ein unsicheres Lächeln.
Walter konnte, während er sich zum Gehen wandte, nicht umhin, Judith leise zuzuraunen: »Beneidenswert, so engagierte und formbare Leute zu haben. Er frisst dir aus der Hand.«
»Halte dich mit deinen frechen Bemerkungen besser zurück, sonst erinnere ich Stein daran, dass er dich noch nicht kontrolliert hat. Dann bist du den ganzen Vormittag in seinen Klauen«, flüsterte Judith zurück.
»Das machst du besser nicht! Womöglich ist seine enorme Auffassungsgabe ansteckend. Und zu viel Diensteifer könnte mich dauerhaft schädigen!«
»Hm. Das will ich natürlich nicht riskieren«, war Judith sich gewiss und setzte gekonnt eine besorgte Miene auf.
In der Kürze der Zeit war es nicht gelungen, weitere Informationen zu Jenny Holl zu bekommen. Sie mussten sich mit dem Wenigen begnügen, das sie bisher zusammengetragen hatten: Jahrgang 1931, aufgewachsen als Tochter des Försters in Waldau, 1957 von ihrem Bruder und dessen Kumpan brutal vergewaltigt und danach verschwunden. Niemand hatte je wieder etwas von ihr gehört. Wie auch, wenn sie seit fast dreißig Jahren unbescholten als Hella Singer lebte. Und jetzt saß die Frau unter dem Verdacht des dreifachen Mordes nebenan und wartete auf ihr Verhör.
Judith Brunner blätterte in den Unterlagen. Ihre Gedanken bewegten sich immer wieder in entgegengesetzte Richtungen: Mitgefühl für das Vergewaltigungsopfer und Verständnis für deren Vergeltungstaten rangen mit ihren dienstlichen Pflichten. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich in diesem Zwiespalt befand. Und bei Hella Singer war alles noch ein wenig komplizierter.
Der Kommissarin fiel deren überzeugende Vorstellung ein, als sie die Rolle einer verzweifelten Witwe gespielt hatte, trauernd in ihrem Wohnzimmer saß, ihren Mann kaum zwei, drei Kilometer weiter gut versteckt und versorgt wissend. Die Singer hatte sie schamlos angelogen! Das war unter den Umständen sogar nachvollziehbar, doch hatte der täuschend echte Kummer der Frau bei Judith zu einer Panikattacke voller Verlustängste geführt, die ihr wohl noch lange Schmerz bereiten würde. Das konnte sie ihr nicht verzeihen. Sie überlegte
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