Giftweizen
vermeintlichen Mordopfer ein quicklebendiger Mörder geworden.
Vergiften konnten sie ihn mit Sicherheit nicht! Und so fragte er etwas gelassener, nachdem er den ersten Schreck überwunden hatte: »Was erwarten Sie von mir? Weshalb sind Sie hier?«
Er sah unauffällig zur Uhr. Es würde mindestens noch eine Viertelstunde dauern, bis seine Kollegen aus Gardelegen da wären. Also musste er seine Besucher bis dahin, so gut es ging, hinhalten.
»Wir haben gesehen, dass Sie gestern Abend in unserem Haus waren.« Eduard Singer klang nicht vorwurfsvoll, eher betrübt. »Das fühlte sich nicht gut an.«
»Damit mussten Sie doch rechnen! Das ist die übliche polizeiliche Praxis. Sie sind immerhin auf der Flucht.«
»Die Arbeit hätten Sie sich sparen können. Wir sind ja hier.«
»Womit man aber nicht rechnen konnte. Welche Mörder sind schon so zuvorkommend?!«, provozierte Dreyer in seiner Nervosität die Besucher.
Das war ein Fehler, denn Eduard Singer stieß sich von der Wand ab und machte einen Schritt auf ihn zu. Seine Frau hielt ihn jedoch mit einer sanften Berührung am Arm zurück. Singer blieb stehen und sprach mit scharfer Stimme: »Sie wissen überhaupt nichts!«
Er hatte unzweifelhaft recht, zumindest war Walter genau das in den letzten Sekunden durch den Kopf gegangen.
Singer lehnte sich wieder an die Wand und schwieg.
Seine Frau fing an, in ihrer Handtasche zu kramen. Als sie ein Taschentuch herauszog, atmete Walter Dreyer erleichtert auf.
Ein erneut verstohlener Blick auf die Uhr zeigte ihm an, dass kaum ein paar Minuten vergangen waren. Die Situation wurde unerträglich. Was konnte er tun? ... Da bemerkte er, wie sich ein Mann lautlos an seinem Bürofenster vorbeibewegte und in Richtung Haustür schlich. Der Kollege aus Breitenfeld! Woher wusste der ...? Lisa! Sie war ein Schatz. Walter würde sich ein besonderes Dankeschön für sie einfallen lassen müssen.
Eine Sekunde später grüßte Manfred Lange betont laut in den Raum. Er starrte Eduard Singer einen Augenblick lang an und sagte dann betrübt: »So sieht man sich wieder?«
»Tut mir leid, Manfred.« Singer klang, als meine er das auch so.
Doch für Walter Dreyer war nicht erkennbar, ob sich diese Äußerung auf die bereits geschehenen Ereignisse bezog oder ob Eduard Singer um Nachsicht für etwas bat, das gleich folgen würde. Jetzt erst bemerkte er, dass sein Kollege die Dienstpistole in der Hand hielt, obgleich er sie nicht auf eine Person richtete. Auch ein Paar Handschellen blitzte deutlich sichtbar an Manfred Langes Gürtel. Einigermaßen beruhigt stand Walter Dreyer auf und wandte sich an das Ehepaar: »Wir warten jetzt auf weitere Kollegen. Die sind jeden Moment da. Ich würde es bevorzugen, wenn Sie mit Ihren Erklärungen warten, bis Sie in Gardelegen in den Räumen der Kreisdienststelle der Polizei sind. Ich habe hier keinerlei technische Ausrüstungen und bin auch nicht befugt, Ihre Aussagen aufzunehmen.«
~ 59 ~
»Kann das wahr sein?« Judith Brunner konnte kaum fassen, was Lisa Lenz, die schon ungeduldig im Eingangsbereich auf sie gewartet hatte, ihr berichtete. »Vor Dreyers Haus sitzen die? Das ist ja unglaublich! Wir müssen sofort hin.«
Auch Dr. Grede war verblüfft gewesen, als Lisa ihn kurz zuvor über die Situation in Waldau informiert hatte. Er kümmerte sich umgehend um Fahrzeuge und Leute und so konnten sie wenig später mit Blaulicht in Richtung Waldau rasen.
Judith war beunruhigt. Was sollte der Auftritt der Singers bei Walter bedeuten? Wollten sie sich für ihre Enttarnung revanchieren? Zu unwahrscheinlich! Lisas Schilderung nach hörte es sich so an, als würden sie sich stellen wollen. Hoffentlich war Manfred Lange inzwischen schon vor Ort ...
Als Judith Brunner und Dr. Grede durch die offene Tür in das Büro blickten, standen Hella und Eduard Singer, sich an den Händen haltend, mitten im Raum. Sitzgelegenheiten hatten sie dankend abgelehnt.
Manfred Lange lehnte am vorderen Fenster und hatte seine Waffe inzwischen zurück in das Gürtelholster gesteckt; seine Hand lag jedoch deutlich sichtbar auf dem Pistolengriff.
Walter stand neben seinem Schreibtisch und Judith sah, dass auch er die Kassette mit der Dienstwaffe aus seinem Stahlschrank genommen und geöffnet hatte.
Angesichts des friedfertigen Eindruckes, den Eduard Singer und seine Frau recht erfolgreich von sich zu verbreiten versuchten, wirkte die Bewachung durch zwei bewaffnete Ordnungshüter irgendwie paradox. Doch inzwischen gingen alle anwesenden Polizisten
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