Gilde der Jäger 01 - Engelskuss
sondern mich, Elena Deveraux.«
Er zwang sie, die Klinge freizugeben, und ruckartig ließ sie los. Als das Messer zu Boden fiel, wurde sein Aufprall sanft von der Blutlache gedämpft. Elena blieb regungslos stehen, sie unternahm keinen Versuch, die Blutung zu stillen.
Und als Raphael kam und sich dicht neben sie stellte, wich sie keinen Zentimeter.
»Sie glauben also, Sie haben mich in der Hand?« An dem blauen Himmel stand nicht eine Wolke, doch Elena spürte, wie stürmische Winde ihr Haar zerzausten.
»Nein.« Sein Duft– frisches, klares Meerwasser– umhüllte sie und legte sich über den pelzigen Vampirgeschmack, der ihr noch immer den Mund verpestete. »Mir macht es nichts aus, zu gehen und Ihnen Ihre Anzahlung zurückzuerstatten.«
»Diese Möglichkeit«, sagte er und wickelte dabei eine Serviette um ihre Hand, »existiert nicht.«
Verblüfft über seine unerwartete Geste, schloss sie die Hand, um die Blutung so aufzuhalten. »Warum nicht?«
»Ich will, dass Sie diesen Auftrag erledigen«, antwortete er, als sei das Grund genug. Und für einen Erzengel war es das tatsächlich auch.
»Und was soll ich tun? Jemanden aufspüren?«
»Ja.«
Erleichterung überkam sie so wie der nah bevorstehende Regen. Aber nein, das war sein Geruch, würziges, frisches Meereswasser. »Ich brauche lediglich ein Kleidungsstück, das der Vampir kürzlich getragen hat. Wenn Sie seinen ungefähren Aufenthaltsort kennen, umso besser. Ansonsten setze ich die Computerexperten der Gilde daran, öffentliche Verkehrsmittel, Kontobewegungen und so weiter nachzuprüfen, während ich die Jagd über Land aufnehme.« Im Kopf entwarf sie bereits einen Plan, wog Möglichkeiten ab.
»Sie haben mich falsch verstanden, Elena. Sie sollen keinen Vampir für mich finden.«
Abrupt hielt sie inne. »Sie sind also auf der Suche nach einem Menschen? Kann ich natürlich auch machen, aber da habe ich einem guten Privatdetektiv nichts voraus.«
»Raten Sie weiter.«
Weder Vampir noch Mensch. Da bliebe… »Einen Engel?«, hauchte sie. »Nein.«
»Nein«, sagte er zustimmend, und wieder durchflutete sie ein Gefühl der Erleichterung. Das hielt so lange, bis er schließlich sagte: »Einen Erzengel.«
Elena starrte ihn an: »Das soll wohl ein Scherz sein.«
Unter seiner hübschen, zart gebräunten Haut zeichneten sich jetzt deutlich die Wangenknochen ab. »Nein. Der Kader der Zehn beliebt nicht zu scherzen.«
Bei dem Gedanken an den Kader drehte sich ihr der Magen um– wenn Raphael auch nur annähernd ein Beispiel für ihre tödliche Macht war, wollte sie mit dem erlauchten Gremium keine Bekanntschaft machen. »Warum einen Erzengel?«
»Das geht Sie weiter nichts an.« Sein Ton war unmissverständlich. »Wissen sollten Sie hingegen, dass Sie bei einer erfolgreichen Jagd mit mehr Geld entlohnt werden, als Sie jemals in Ihrem Leben ausgeben können.«
Mit einem Blick auf die blutbefleckte Serviette sagte sie: »Und wenn ich versage?«
»Versagen Sie lieber nicht, Elena.« Seine Augen blickten freundlich, doch sein Lächeln verriet Dinge, die lieber ungesagt blieben. »Sie faszinieren mich– ich würde Sie nur sehr ungern bestrafen.«
In ihrem Kopf blitzten Bilder von dem Vampir am Times Square auf; von dem ganzen Wesen war nur ein zerfetztes Bündel übrig geblieben… Raphaels Auslegung von Strafe.
4
Elena saß im Central Park auf einer Parkbank und beobachtete die Enten im Teich. Eigentlich war sie dort hingegangen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, doch es gelang ihr nicht. Alles, woran sie denken konnte, war, ob Enten auch Träume hatten.
Eher nicht, dachte sie. Wovon würde eine Ente schon träumen? Von frischem Brot und einem schönen Flug sonst wohin, wo immer Enten auch hinfliegen mochten. Flug. Ihr stockte der Atem bei den Bildern, die vor ihrem inneren Auge aufflackerten: wunderschöne, golddurchwirkte Flügel, vor Macht funkelnde Augen, der Glanz von Engelsstaub. Verzweifelt rieb sie sich die Augen, um die Erinnerungen aus dem Kopf zu bekommen. Ohne Erfolg.
Es kam ihr vor, als hätte Raphael ihr Unterbewusstsein manipuliert, und jetzt würde es ununterbrochen Bilder ausspucken, von genau den Dingen, an die sie gerade nicht denken wollte. Zuzutrauen wäre es ihm, doch um sie so gründlich durcheinanderzubringen, hatte er eigentlich nicht die Zeit gehabt. Sofort nachdem er ihr gesagt hatte, sie solle lieber nicht versagen, war sie gegangen. Seltsamerweise hatte er sie gehen lassen.
Jetzt kämpften die Enten miteinander,
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