Gilgamesch - Der Untergang
des Todes?
Der Gedanke tröstete sie. Vielleicht würden sie sich wieder sehen an dem einen Ort, der ohne Zeit war, und der vielleicht dem Ort der Seelen entsprach, den sie am Ende alle betraten.
Die Schäden am Haus waren leicht, und Calw war durch seine geschützte Lage bei den heftigen Unwettern glimpflich davon gekommen.
Das Weihnachtsfest in diesem schicksalhaften Jahr 2012 hatte etwas von einer Tiefe, die ihm in den Jahren des grenzenlosen Konsums abhandengekommen war.
Die Menschen schenkten sich Zeit und begannen wieder einander zuzuhören, denn eine Erkenntnis löschte nach dem einundzwanzigsten Dezember Unterschiede zwischen ihnen aus, die bis zu diesem Tag unüberwindbar schienen. Es war die einfache Erkenntnis, dass Zeit etwas Kostbares, und dass sie begrenzt war innerhalb großer Zyklen, an deren Ende ein Bruch stand, der jeden von ihnen betraf und ein Ende, wie auch einen neuen Anfang markierte.
Das Ende eines jeden Zyklus forderte eine Entscheidung.
Es war die Entscheidung über den ersten Schritt, der die Richtung vorgab für den neuen Äon, und dieser Schritt war nun getan. Die Ritter der Rose hatten die Rückkehr des Simon Magus vereitelt. Es war keine Garantie für ein goldenes Zeitalter, das war es nie gewesen, doch es war die Chance, einer gerechteren Welt einen Schritt näher zu kommen. Was sie alle daraus machen würden, würde die Zukunft zeigen.
Das Erdmagnetfeld erholte sich schneller als erwartet, da es durch den Gravitationsimpuls des schwarzen Loches auf den flüssigen Eisenkern im Erdinneren unterstützt worden war. Der weltweite Flugverkehr kam wieder in Gang, weil der Aschenausstoß der unzähligen Vulkane allmählich versiegte. Die Turbulenzen unter den Kontinentalplatten ebbten mit Wiederherstellung der magnetischen Pole schließlich ab.
Klara und ihre Schwestern spürten die neue Liebe zwischen ihren Eltern, und besonders Klara, die aufgrund ihrer Sensibilität am stärksten unter den Spannungen gelitten hatte, blühte auf. Sie entfaltete ihre besonderen medialen Fähigkeiten, die Christopher an seine Großmutter erinnerten. Er erkannte sich selbst in seiner jüngsten Tochter wieder und lernte von ihr, verschüttete Gaben und Gefühle neu zu entdecken.
Der Hades hatte die Unwetter unbeschadet überstanden.
„…wie könnte es auch anders sein“, bemerkte Herbert mit einem verschmitzten Lächeln, als sie sich an einem Tisch ihrer Stammkneipe niederließen. Sie grübelten schweigend vor sich hin, bis das erste Glas die Zungen gelöst hatte.
„Mir fehlt noch irgendein Puzzlesteinchen, das mein Bild vervollständigt und die Zusammenhänge plausibel macht“.
Herbert lächelte schief,
„... naja, wenn es in dieser Geschichte überhaupt so etwas wie Plausibilität gibt“.
„Weißt Du, Gryphius hat mir, als ich in dieser Höhle lag, mit seiner Supernovatheorie die Augen geöffnet. Tatsächlich stehen mit großen Sternexplosionen Zeitanomalien in Zusammenhang, die die Erde erreichen können, und sie geschehen andauernd im Universum. Aus diesen Eruptionen werden häufig schwarze Löcher herausgeschleudert, die unsere Raumzeit verbiegen. Sie können, müssen aber nicht mit der Erde kollidieren, doch so, wie die Bugwellen eines vorbeifahrenden Schiffes irgendwann einen Strand erreichen, können uns kleine oder große Tsunamis der Zeit ohne Vorankündigung treffen und kurzfristig einen Kontakt zu einer Parallel- oder Antiwelt herstellen. Als moderne Menschen haben wir stillschweigend die mystische Welt unserer Vorfahren verlassen. Die Physik gaukelt uns Berechenbarkeit und damit eine Sicherheit vor, die es nicht gibt. Unsere Raumzeit mag in der kurzen Spanne unseres Lebens statisch wirken, ist aber über galaktische Zeiträume betrachtet ein Schweizer Käse. Durch die Löcher können besondere Menschen Kontakt mit dieser Parallelwelt aufnehmen, und diese Menschen hat es immer gegeben“.
Herbert dachte einen Moment lang nach, dann erwiderte er:
„Und diese Parallelwelt ist ohne Zeit, das heißt, alles ist gleichzeitig. Dort stehen alle Informationen, alle Ereignisse der Zukunft und Vergangenheit zur Verfügung, so als stünde man vor einem riesigen Bücherregal, aus dem man jedes beliebige Buch nur herausziehen muss.“
„Ja, so stelle ich mir das vor. Gryphius nannte ihn zudem den Ort der photonischen und antiphotonischen Seelen, die von dort in unsere Realität zurückkehren können, sobald sich mit einer Zeitanomalie eine Türe in unsere Welt öffnet.
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