Das sag ich dir
Hanif Kureishi
Das sag ich dir
Roman
Aus dem Englischen von Henning Ahrens
Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel
» Something to tel l you«
»I went down to the crossroads
Fell down o n my knees.«
Robert Johnson
TEIL EINS
EINS
Meine Währung sind die Geheimnisse: Ich lebe davon, mit ihnen zu handeln. Die Geheimnisse des Begehrens und die Geheimnisse dessen, was die Menschen wirklich wollen und wovor sie sich am meisten fürchten. Die geheimen Gründe dafür, warum Liebe schwierig ist, Sex heikel, das Leben eine Qual und der Tod so nah und so fern zugleich. Wie kommt es, dass Lust und Strafe so eng miteinander verwandt sind? Wie sieht die Sprache unserer Körper aus? Weshalb machen wir uns krank? Wieso will man scheitern? Warum ist Freude so unerträglich?
Eben hat eine Frau mein Behandlungszimmer verlassen. In zwanzig Minuten kommt die nächste. Ich ordne die Kissen auf der Analysecouch und entspanne mich in meinem Sessel bei einer anderen Art des Schweigens, trinke Tee, denke über Bilder, Sätze und Worte des letzten Gesprächs nach, aber auch über die Sprünge und Brüche.
Wie so oft in diesen Tagen beginne ich, mir Gedanken über meine Arbeit zu machen, über die Probleme, mit denen ich mich herumschlage, und wie es dazu kam, dass ausgerechnet dieser Job mein Broterwerb wurde, meine Berufung, meine Freude. Noch verwirrender ist der Gedanke, dass diese Arbeit erstens mit einem Mord ihren Anfang nahm - heute ist sein Jahrestag - und zweitens damit, dass Ajita , meine erste Liebe, für immer verschwand.
Ich bin Psychoanalytiker. Mit anderen Worten: ein Deuter von Seelen und Zeichen. Man nennt mich auch Gehirnklempner, manchmal einfach nur Scharlatan oder Hochstapler, und wirft mir vor, im Dreck zu wühlen. Wie ein auf dem Rücken liegender Mechaniker die Unterseite eines Autos abklopft, klopfe ich die Unterseiten von Geschichten ab: Phantasien, Wünsche, Lügen, Träume, Albträume - die Welt unter der Welt, die wahren Worte unter den falschen. Ich nehme die aberwitzigsten und wirrsten Dinge ernst; ich begebe mich an Orte, die die Sprache nicht erreicht oder vor denen sie haltmacht - das Unbenennbare -, und das sogar recht früh am Morgen.
Bei mir spricht das Leid, und ich höre von Schuldgefühlen und Gelüsten, die die Menschen terrorisieren, ich höre von Geheimnissen, die ein Loch in das Selbst brennen und den Körper deformieren oder gar verkrüppeln, von den Wunden der Erfahrungen, die wieder aufgerissen werden, damit die Seele gesunden kann.
Im tiefsten Inneren sind die Leute verrückter, als sie glauben möchten. Man wird feststellen, dass sie sich davor fürchten, gefressen zu werden, und dass sie über ihre Lust erschrecken, andere zu fressen. Im Laufe eines ganz gewöhnlichen Tages stellen sie sich außerdem vor, dass sie gleich explodieren oder implodieren, sich auflösen oder Opfer einer feindlichen Übernahme werden. Ihr Alltag wird von Ängsten beherrscht, die unter anderem ihren Liebesbeziehungen gelten, aber auch dem Umgang mit Kot und Urin.
Bevor all dies seinen Anfang nahm, habe ich immer Klatsch und Tratsch genossen, eine grundlegende V oraussetzung für diesen Job. Inzwischen höre ich jede Menge davon, und Tag für Tag, Jahr um Jahr strömt ein Fluss menschlichen Mülls in mich hinein. Wie viele andere Vertreter der Moderne maß auch Freud dem Abfall einen besonderen Rang zu; vielleicht war er der erste Künstler, der mit >objets trouves< arbeitete und dem eine Bedeutung abgewann, was in den allermeisten Fällen einfach weggeworfen wird. Dem allzu Menschlichen so nahe zu kommen ist eine schmutzige Arbeit.
Inzwischen gibt es noch etwas in meinem Leben, im Grunde fast einen Inzest, und wer hätte das gedacht? Miriam, meine große Schwester, und Henry, mein bester Freund, haben ihre Leidenschaft füreinander entdeckt. Diese erstaunliche Liaison hat unsere Leben verändert, ja regelrecht aus den Angeln gehoben.
Ich sage »erstaunlich«, weil es zwei sehr unterschiedliche Menschen sind, die man sich nie als Paar vorgestellt hätte. Er ist Theater- und Filmregisseur, ein eingefleischter Intellektueller, dessen Leidenschaft Gesprächen, Ideen und allem Neuen gilt. Sie hingegen könnte unintellektueller nicht sein, obwohl sie stets als »klug« gegolten hat. Sie kennen sich schon seit vielen Jahren; Miriam hat mich manchmal in seine Inszenierungen begleitet.
Wahrscheinlich hatte meine Schwester schon lange gehofft, dass ich sie ausführen würde, aber ich brauchte
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